200. Geburtstag von Louis Lewandowski

Der Triumph eines genialen Künstlers

16:04 Minuten
Blauer Himmel rahmt die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin ein.
Louis Lewandowski war Dirigent an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße - hier konnte er von Instrumenten begleitete Musik einstudieren, aufführen und publizieren. © picture alliance / Paul Zinken
Von Stefanie Oswalt · 16.04.2021
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Louis Lewandowski war ein jüdischer Sänger, Dirigent und Komponist mit einer einzigartigen Musikerkarriere. Er fusionierte weltliche und synagogale Musik im sogenannten deutschen Ritus, der von hier aus seinen Weg in liberale Synagogen weltweit fand.
Berlin Charlottenburg. 18 Musiker des Synagogal Ensembles Berlin treffen sich in der Synagoge Pestalozzistraße zur Probe. Mit gebührendem Corona-Abstand sitzen sie im Gestühl des mit warmen Rosatönen ausgemalten Raums. Die Musik, die hier zum Lobpreis Adonais, des Schöpfers des Himmels und der Erde, erklingt, hat Louis Lewandowski komponiert.
Wenig ist bekannt über diesen Musiker, der im Berlin des 19. Jahrhunderts eine fulminante Karriere machte. Ein einziges Gemälde eines unbekannten Künstlers aus dem Jahr 1868 zeigt sein schmales Gesicht: Halblange, nach hinten gekämmte Haare, schwere Augenlider über dunklen Augen, den Mund rahmt ein dünner Moustache mit Ziegenbärtchen.
"Diese Quellenlage ist tatsächlich ein großes Problem, weil es eigentlich gar keine primären Quellen gibt. Also es gibt weder Dokumente noch Musikmanuskripte aus seinem Nachlass. Der ganze Nachlass ist verschwunden und bis heute weiß niemand, was damit geworden ist", sagt der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov.
Gemeinsam mit dem Historiker Herman Simon hat er eine "Miniatur" über Louis Lewandowski verfasst, ein kleines Büchlein, das die Fakten über dieses Künstlerleben zusammenträgt.
"Es gibt sehr viele Legenden, wie immer über bekannte Leute. Irgendwelche Schüler oder Nachfolger erzählen irgendwelche Sachen, die zum Teil relativ beliebig erfunden wurden."

Jascha Nemtsov, Hermann Simon: "Louis Lewandowski - Liebe macht das Lied unsterblich!"
Hentrich & Hentrich, Berlin 2011
64 Seiten, 6,90 Euro

So ist unklar, wann er seinen Geburtsnamen Lazarus – hebräisch Elizer – ablegte und sich Louis nannte. Und Uneinigkeit herrscht beim Geburtsdatum des Musikers, weiß Kantor Isidoro Abramowicz, der sich seit Jahren mit dem Leben Lewandowskis ausgiebig beschäftigt:
"In einigen Quellen wird der 3. April 1821 als sein Geburtstag genannt, in anderen der 23. April 1821. Wenn Sie seinen Grabstein auf dem Weißensee-Friedhof sehen, da steht der 23. April und nicht der 3. April."

Eine jüdische Karriere im 19. Jahrhundert

Sein Geburtsort hingegen gilt als gesichert – die Kleinstadt Wreschen im Großherzogtum Posen, damals zu Preußen gehörend, Września in Polen. Als fünftes Kind eines Kantors habe der junge Louis Lewandowski schon früh eine große musikalische Begabung gezeigt, heißt es. Deshalb schicken ihn seine Eltern 1834, mit noch nicht einmal 13 Jahren in die Residenzstadt Berlin. Eine Stadt im Aufbruch.
"In Berlin gibt’s ja alles: Es gibt die jüdischen Millionäre und es gibt die Bettler und Schnorrer, es gibt die Anfänge eines jüdischen Industrieproletariats – also es gibt eine ganz große Bandbreite von jüdischen Existenzen in der Stadt. Das Problem der Rabbiner und der Synagogen und Kantoren ist: Die kommen nicht mehr automatisch in die Synagoge", sagt der Judaist Christoph Schulte, ein Spezialist für die Haskala, die jüdische Aufklärung.
Jüdisches Denken und jüdische Tradition, so Schulte, unterliegen Mitte des 19. Jahrhunderts großen Veränderungen. Seit dem preußischen Emanzipationsedikt von 1812 sind die Bürger gleichgestellt - erstmals begegnen sich jüdische und christliche Intellektuelle auf Augenhöhe. Und die neuen Freiheiten führen innerhalb des Judentums zu neuen Entwicklungen: Neben konservativen und orthodoxen entstehen auch liberale Strömungen des Judentums.

Alexander Mendelssohn fördert ihn

Der junge Louis Lewandowski gerät mitten hinein in diese Veränderungen. Seinen Unterhalt finanziert er sich als "Singerl" bei der jüdischen Gemeinde – er begleitet den Kantor gesanglich beim Gottesdienst. Zugleich findet er aber auch Zugang zu anderen Milieus – etwa dem Haus des Bankiers und Philanthropen Alexander Mendelssohn: Hier begegnet der junge Musiker zeitgenössischer westeuropäischer Musik – vor allem der von Felix Mendelssohn-Bartholdy, einem Cousin des Hausherren.
Alexander Mendelssohn finanziert dem jungen Mann Musikstunden und verhilft ihm schließlich dazu, an der Aufnahmeprüfung der Akademie der Künste teilzunehmen – und tatsächlich: Als erster Jude immatrikuliert er sich an der Akademie der Künste – eine Sensation!
Doch Louis Lewandowski geht keinen weltlichen musikalischen Weg – er bleibt der Synagoge treu. 1840 wird er als Chorleiter der alten Synagoge in der Heidereuterstraße angestellt. Hier beginnt er bereits, seine neue Synagogenmusik zu komponieren. Vorerst landet sie noch in der Schublade, wie das Stück Zaddik Kattomor, das zu einer der bekanntesten Melodien Lewandowskis werden sollte.
Louis Lewandowski komponiert nicht im luftleeren Raum – auch andernorts in Europa gibt es Ansätze, die jüdische Liturgie und Musik zu reformieren: In Paris ist es Samuel Naumbourg, in Wien Salomon Sulzer, dessen Werke Louis Lewandowski ausgiebig studiert. Ziel der Komponisten ist es, den jüdischen Gottesdienst anzupassen an die Bedürfnisse eines modernen, emanzipierten Judentums.
"Man muss sich vorstellen: Die Juden kommen durch die Emanzipation in die Gesellschaft hinein und sie wollen ganz normal Deutsche sein, die einfach nicht christlich sind, sondern jüdisch – aber ansonsten ebenbürtig." Regina Yantian, Organistin der Synagoge Pestalozzistraße und künstlerische Leiterin des Louis Lewandowski Festivals.
"Ein orthodoxer Gottesdienst läuft ja anders ab: Da betet der Vorbeter und jeder betet so für sich, in seinem individuellen Tempo und man trifft sich dann ab und zu im Gebet. Und das passt natürlich nicht zum Deutschsein, weil in der Kirche gibt es einen normalen Ablauf: Man singt zusammen, man betet zusammen und alles ist so geordnet. Und dann haben im 19. Jahrhundert die Juden gedacht: Ja. So wollen wir das auch."

Ordnung muss sein

Louis Lewandowski formuliert es im Vorwort seiner später publizierten Partituren so:
"Der Gesang, in bessere und bestimmtere Formen gebracht, sollte die bisherigen Sangweisen verdrängen und die Vorbeter in ihrer überaus freien Manier – beßer Unmanier – begränzen. Der nach Kunstgesetzen gebildete Chorgesang hatte zunächst den Zweck, der bisher noch vorherrschenden Willkür der zumeist sehr ungebildeten und unmusikalischen Vorbeter gegenüber das Kunstgesetz entgegenzustellen..."
"Es war praktisch eine Wende in der Geschichte der jüdischen Musik. Denn jüdische Musik ist ja generell eine mündliche Tradition", sagt Jascha Nemtsov.

Bisher sind Instrumente in der Synagoge ein Tabu

Erst Louis Lewandowski etabliert Instrumente im jüdischen Gottesdienst und er notiert die Melodien, sagt der Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov weiter. Ein Tabubruch, denn Musikinstrumente seien schon kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels aus der Synagoge verbannt worden – in orthodoxen Synagogen bis zum heutigen Tag.
Doch diese Traditionen stehen zu Lewandowskis Zeiten wissenschaftlich erstmalig auf dem Prüfstand: Mit der Entstehung der Wissenschaft des Judentums im Jahr 1822 befassen sich erstmals auch jüdische Gelehrte mit Fragen der jüdischen Tradition und Liturgie.
Der Wissenschaftler Leopold Zunz gelangt dabei zu bahnbrechenden Erkenntnissen, sagt der Judaist Christoph Schulte:
"Mit dieser historischen Erforschung der Gottesdienstrituale hat man festgestellt: Aha, die haben sich verändert, das heißt, wir können uns auch selbst ermächtigen heute, Gottesdienstrituale zu verändern, zu reformieren, wie man das nannte, wir können uns vorstellen, dass es deutsche Predigten des Rabbiners gibt und damit einhergehend kann man sich auch vorstellen, dass sich die Gestaltung des synagogalen Rituals bis hin zur Musik verändert."
Besonders leidenschaftlich werden die Diskussionen innerhalb der jüdischen Gemeinde beim Bau der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße geführt. Hier entsteht ein selbstbewusster Prachtbau mit einer goldenen Kuppel – aber soll er mit einer Orgel ausgestattet werden?
Louis Lewandowski bezieht Stellung im sogenannten "Orgelstreit" und spricht sich vehement dafür aus: "Die Orgel, das Instrument der Instrumente, ist vermöge ihrer weit ausgebenden Tonfülle allein im Stande, große Massen in großen Räumen zu beherrschen und zu leiten."
Lewandowskis Stellungnahme hat Gewicht – seine Bedeutung als Chorleiter und Komponist hat er über die Jahre gefestigt, seit 1865 trägt er den Titel "Königlicher Musikdirektor". Ein Jahr später erreicht er den Höhepunkt seiner Karriere: Er wird Dirigent an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Endlich kann er von Instrumenten begleitete Musik einstudieren, aufführen und publizieren. Mit seinen Kompositionen wird der neue Prachtbau eingeweiht:
"Den Glanzpunkt der Feier bildete zweifellos das große Hallelujah, Psalm 150, von Lewandowski, das jetzt allgemein bekannt ist, in D-Dur." So erinnert sich ein Zeitgenosse, Kantor Bernhard Jacobsohn. "Das war ein wahrer Kiddush Haschem, eine Verherrlichung Gottes, und zugleich ein Triumph für den genialen Künstler, den Schöpfer der Synagogenmusik für die größte jüdische Gemeinde Deutschlands."
In der Neuen Synagoge Oranienburger Straße kann Louis Lewandowski sich nun voll entfalten: 1871 erscheint die erste Sammlung seiner Kompositionen für Kantorsolo und zwei Stimmen: Kol Rinaah u T’fillah – zu deutsch "Stimme der Freude und des Gebets". 1876 und 1882 folgen die beiden Teile von Todah we Simrah – Dank und Gesang – Kompositionen für Kantorsolo, vierstimmigen Chor und Gemeindegesang.
Besonders beliebt sind seine Psalmenvertonungen in deutscher Sprache – wie hier Psalm 23 "Der Herr ist mein Hirte".
Kompositionen, die so sehr an christliche Vorbilder erinnern, stoßen heute wie damals auf geteilte Resonanz: Auch das Musikerehepaar Nemtsov ist sich nicht ganz einig. Jascha Nemtsov findet Louis Lewandowskis Musik wenig originell:
"Sie ist ästhetisch überhaupt nicht eigenständig. Das Einzige, was tatsächlich den musikalischen Wert dieser Kompositionen ausmacht, sind die Elemente der jüdischen traditionellen Musik – aber die ganze Art der Bearbeitung ist völlig epigonal."
Sarah Nemtsov, die mit der Blockflöte professionell viel in Kirchen aufgetreten ist und sich als Komponistin einen Namen gemacht hat, widerspricht. Sie erkennt in Louis Lewandowskis Werken eine eigene jüdische Spiritualität:
"Ich finde, das, wodurch es sich von christlich liturgischer Musik und anderer Musik der Zeit unterscheidet, ist, dass es schon spezifisch jüdische Elemente gibt. Es gibt so eine leise Melancholie, die auch im Dur mitschwingt, finde ich, ebenso etwas Bitter-Süßes. Und auch, dass es in den Gesängen Floskeln oder Anlehnungen an den eher osteuropäischen Kantorengesang gibt. Auch durch die hebräische Sprache haben die Melodien andere Wege zum Teil, andere Phrasen."
Auch Kantor Isidoro Abramowicz empfindet die Musik Louis Lewandowskis als spezifischen Ausdruck jüdischen Erlebens – schon als Kind hat er sie in der Libertad-Synagoge von Buenos Aires gehört und sich ihr immer verbunden gefühlt. Heute bemüht er sich als Kantor der Synagoge in der Pestalozzistraße und zugleich als Leiter der Kantoren-Ausbildung am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg, die Tradition aufrecht zu halten:
"Die Geschichte wird immer weitererzählt. Was unsere Vorfahren erlitten haben und diese Beziehung mit Gott, der uns gerettet hat. Aber diese Bitterkeit, die wir erlebt haben, die unsere Vorfahren erlebt haben, das steckt da drin. Zum Beispiel ist das Stück, das ich jetzt gesungen habe, Haschkiweinu - der Text ist sehr stark. Wir bitten Gott, dass er uns vor Satan schützt und dass er keine Plagen bringt, dass er für uns ein gutes Leben vorbereitet."
200 Jahre nach seiner Geburt ist Louis Lewandowski über die Synagogenmusik hinaus nicht sehr bekannt. Dabei ist er bei seinem Tod zwei Jahre nach seiner Pensionierung am 3. Februar 1894 ein im Kaiserreich berühmter Mann, der in einem Ehrengrab auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt wird.
Gut 40 Jahre später bricht die von ihm verkörperte deutsche liberale Tradition abrupt ab: In der Pogromnacht 1938 brennen die Synagogen und mit ihnen verbrennen die Orgeln. Die wenigen Überlebenden, die nach der Schoah das jüdische Leben in Deutschland wieder aufbauen, haben meist andere Traditionen.
Die Synagoge Pestalozzistraße in Berlin jedoch entscheidet sich, die Liturgie und Tradition Louis Lewandowskis weiter zu pflegen.
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