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Kohl-Biographie
Politischer Riese und Herzenseuropäer

Kanzler der Einheit, Vater der Spendenaffäre: Die Bilder und Profile von Altkanzler Helmut Kohl sind sehr vielfältig. Einen großen Querschnitt seines politischen Lebens bildet die Biographie von Hans-Peter Schwarz ab - seinen Schwerpunkt legt der Autor auf Europa.

Von Barbara Roth | 19.06.2017
    Altkanzler Helmut Kohl auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2013.
    Altkanzler Helmut Kohl auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2013. (imago / Zuma Press)
    Ein gewichtiges Buch. 1.216 Gramm schwer. 1.056 Seiten dick. Der Autor ist nicht irgendwer. Sondern der Adenauer-Biograph Hans-Peter Schwarz.
    "Es ist etwas zu ruhig um ihn geworden. Und man vergisst zu rasch, was für eine große, riesige politischen Rolle er in der alten Bundesrepublik und vor allem auch mit seiner Europapolitik gespielt hat. Ich würde ihn neben Adenauer als den Bundeskanzler begreifen, der die größten Spuren in der deutschen und europäischen Geschichte hinterlassen hat - nicht nur als Kanzler der Einheit, sondern er war der maßgebliche europäische Politiker."
    Nämlich der "Architekt des neuen Europas" - wie der Historiker ein langes Kapitel seines Buches überschreibt. Fast fünf Jahre lang studierte Schwarz Protokolle, blickte in bislang geheime Dokumente des Bundeskanzleramts, las die Tagebücher von Kurt Biedenkopf, Walter Leisler Kiep und Gerhard Stoltenberg und führte über 40 Interviews mit Zeitzeugen - sein Buch gliedert er in sechs chronologisch geordnete Abschnitte.
    Das Ziel waren die Vereinigten Staaten von Europa
    Für die Idee eines vereinten Europa begeistert sich der junge Kohl früh. Denn als Pfälzer weiß er, dass politische Grenzen nur auf Zeit bestehen, schreibt Schwarz. Kohl ist 15. als der Zweite Weltkrieg endete, die Pfalz von den Franzosen besetzt wird.
    "Europa als Alternativentwurf zur Machtpolitik des Nationalstaats - dieser Gedanke überzeugt ihn. Mit anderen Pennälern versucht er in Ludwigshafen eine Ortsgruppe der Europa-Union mit Namen "Neue Wirklichkeit" zu gründen. Wir strebten die Vereinigten Staaten von Europa an. Wir waren fest überzeugt von der Richtigkeit dieses Weges, skizziert er später die Anfänge seiner europäischen Überzeugung."
    Ludwigshafen, seine Heimatstadt, ist eine Arbeiterstadt und Hochburg der SPD. Kohl aber stößt bereits als Sechzehnjähriger zur CDU. Der Gedanke einer christlichen Demokratie gefällt ihm. Er ist ein Bursche mit harten Pranken. Selbstbewusst, laut, 1,93 groß. Einer, der den Mitschülern imponiert und manchen Lehrer irritiert. Solche Typen sind als Klassensprecher gefragt, so Schwarz. Die Gründung einer Europa-Union jedoch wird nicht gestattet.
    "Kohl, der damals schon ein Faible für symbolische Politik hat, macht sich daraufhin mit seinen Freunden nach Weißenburg auf, um dort, an der Grenze zum Elsass, einen Grenzschlagbaum hochzustemmen. Als betagter Mann erinnert er sich an ein Zusammentreffen mit jungen Franzosen an der deutsch-französischen Grenze in der Südpfalz: Wir haben uns erst verprügelt, dann verbrüdert."
    Für die Generation Kohl, für diejenigen also, die während seiner sechzehn Jahre währenden Kanzlerschaft aufgewachsen sind, bietet das Buch interessante Einblicke in ein Politikerleben, das weit mehr zu bieten hat als Parteispendenaffäre, Euro-Einführung oder der Freitod der ersten Ehefrau Hannelore. Auch dieser privaten Tragödie widmet sich Schwarz in seiner politischen Biographie - mit viel Wohlwollen für den Altkanzler und wenig Verständnis für dessen Sohn Walter, der in einem Buch mit dem dominanten, aber nie anwesenden Vater abgerechnet hat.
    Der "Herzenseuropäer" Kohl steht im Mittelpunkt
    Der ältere Kohl-Sohn trägt übrigens den Namen von Helmut Kohls Onkel und Bruder, der eine im Ersten, der andere im Zweiten Weltkrieg gefallen.
    "Seine Mutter habe bestürzt gefragt: Forderst Du damit nicht das Schicksal heraus? Und er habe geantwortet: "Mutter, ich verspreche Dir, dass er nicht in einem Krieg zwischen europäischen Staaten sterben wird.""
    "Das ist das, was die Leute heute schwerer nachvollziehen, dass er sagt, Europa ist in erster Linie eine Friedensgemeinschaft. Der Euro ist ein Friedensinstrument. Wobei Europa für ihn immer heiß, ein starker, gestaltungsfähiger deutsch-französischer Handlungskern mit den anderen dann zusammen."
    Nicht der Kanzler der Einheit - sondern Kohl als - Zitat - Herzenseuropäer steht dann auch im Mittelpunkt dieser Biographie. Gegen den Euro habe er sich lange gesträubt, sagt Schwarz. Doch der französische Präsident Mitterand setzt sich durch. Übrigens lange vor der deutschen Wiedervereinigung, stellt der Autor klar und zitiert Mitterand:
    Wenn der Euro kippt, würde Kohl zur tragischen Figur
    "Die Macht Deutschlands beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe."
    In der Sowjetunion ist seit 1985 Gorbatschow an der Macht, der den Bundeskanzler lange links liegen lässt, mit US-Präsident Reagan jedoch über Abrüstung verhandelt. Doch Kohl traut dem neuen Kremlchef nicht. Er fürchtet, Gorbatschow wolle die Nato spalten, Reagan aber begreife das nicht. Der Deutsche bittet die Franzosen um Schutz, will eine gemeinsame Verteidigungspolitik:
    "Unter diesen Umständen ist nicht erstaunlich, dass der Bundeskanzler nunmehr dem französischen Drängen auf einen deutsch-französischen Rat für Wirtschafts- und Währungsfragen nachgibt. Bei den 50. deutsch-französischen Konsultationen in Karlsruhe erfolgen die prinzipiellen Beschlüsse: Errichtung der deutschen-französischen Brigade und zweier deutsch-französischen Räte."
    "Er hat sich alles, wenn es ging, drei Mal überlegt, war nicht impulsiv. Und der Kohl war ein Strategiehalter. Er hat lange diskutiert, das ging manchmal bis nachts um eins, zwei oder drei Uhr über die richtige Linie, dann wurde entschieden und dann ist er auch nicht mehr davon abgegangen, sondern hat die Sache durchgezogen."
    Wenn der Euro jedoch kippt, wird Kohl zur tragischen Figur. Diese Prognose des euro-kritischen Autors lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Von der Fortentwicklung der Euro-Krise werde die historische Reputation des "Ehrenbürgers Europas" abhängen.
    Schwarz sieht in Kohl nicht unbedingt den Kanzler der Einheit
    "Europa stand im Zentrum seines politischen Wollens. Demgegenüber ist seine Deutschlandpolitik weitgehende defensiv. Kein Gedanke daran, dass man ihn einmal als 'Kanzler der Einheit' feiern könnte."
    Dem "Ehrenbürger Europas" errichtet Schwarz ein biographisches Denkmal. Den Kanzler der Einheit aber stößt er fast vom Sockel - als er sagt: Helmut Kohl habe die Teilung Deutschlands eigentlich akzeptiert. Mauer und Stacheldraht seien zwar ritualisiert beklagt und Reformen angemahnt worden - stets aber mit der Vorgabe, dass die DDR auf keinen Fall destabilisiert werden dürfe.
    "In Bonn herrscht doch ziemlich betretenes Schweigen, als […] Reagan […] im Angesicht des Brandenburger Tores ausruft: Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder. Kohl und seine Getreuen halten es für inopportun, mit ihren Forderungen eine rote Linie zu überschreiten."
    Es sind diese unzählig vielen Details, die das Buch spannend machen. Und für die es sich durchaus lohnt, sich durch über tausend engbedruckte Seiten zu quälen. Hans-Peter Schwarz ist ein guter Erzähler.
    Hans-Peter Schwarz: "Helmut Kohl: Eine politische Biographie",
    DVA/Pantheon Verlag, 1.056 Seiten, 34,99 Euro