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Kohl und Gorbatschow
Strickjackendiplomatie in turbulenter Zeit

Vor 25 Jahren holte Bundeskanzler Helmut Kohl tief Luft und erklärte dann, dass im Grunde der Weg für die deutsche Einheit frei ist. Das hatte ihm der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow zugesagt. Mit ihrer Strickjackendiplomatie trieben sie die Einheit gemeinsam voran.

Von Jacqueline Boysen | 10.02.2015
    Helmut Kohl (l) im Juli 1990 im Gepräch mit Michail Gorbatschow im Kaukasus.
    Helmut Kohl (l) im Juli 1990 im Gepräch mit Michail Gorbatschow im Kaukasus. (picture alliance / dpa)
    "Ich habe heute Abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln. Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammen leben will."
    Tief holte Helmut Kohl Luft, er schien sich umhüllt zu fühlen vom Mantel der Geschichte. Der Bundeskanzler war am 10. Februar 1990 in Moskau seinem Ziel – der deutschen Einheit – ein Stück näher gekommen:
    "Generalsekretär Gorbatschow hat mir unmissverständlich zugesagt, dass die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird. Und dass es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen."
    Unter welchen Bedingungen sich aber das Ende der Zweistaatlichkeit besiegeln lassen würde - das konnte der Bundeskanzler freilich auch fünf Tage darauf vor dem Deutschen Bundestag in Bonn noch nicht präzise ausführen.
    "Heute kann ich dem Deutschen Bundestag berichten: noch nie, seit unser Land geteilt, noch nie seit unser Grundgesetz geschrieben wurde, sind wir unserem Ziel, der Einheit aller Deutschen in Freiheit, so nah gekommen wie heute. (Applaus) Am vergangenen Samstag wurden in Moskau in den Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow die Weichen gestellt. Das Ergebnis dieser entscheidenden Begegnung lautet: Generalsekretär Gorbatschow stellte fest – und der Kanzler stimmt dem zu – dass es jetzt zwischen der UdSSR, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, dass die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden."
    Wiedervereinigung Sache der Deutschen
    Drei Monate nach dem Fall der Mauer war noch nicht abzusehen, wie sich die Ordnung Europas ändern, wie sich die beiden deutschen Staaten annähern würden. Doch von dem Gipfel in Moskau gingen zwei wichtige Signale aus: Persönlich waren sich der Erfinder der "Perestroika" Michail Gorbatschow und der christdemokratische Bundeskanzler Helmut Kohl zugetan. Und in ihren Verhandlungen in Moskau hatten sie einen politischen Durchbruch erzielt, urteilt der Mainzer Historiker Andreas Rödder.
    "Das entscheidende Ergebnis dieses Gipfels am 10. Februar war, dass Gorbatschow Kohl wissen ließ, dass die Sowjetunion die deutsche Wiedervereinigung zu einer Sache der Deutschen erklärte. Das war etwas völlig Neues, weil die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges nicht nur formal ein Mitspracherecht hatten, was die deutsche Frage anging, sondern die Sowjetunion natürlich im ganzen Kalten Krieg die Schutzmacht der DDR gewesen war."
    Am 10.11.1989 tanzen Menschen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor
    Am 10.11.1989 tanzen Menschen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor (AP)
    Dass diese Schutzmacht die DDR nicht mehr mit Waffengewalt verteidigen würde, das stand im Februar 1990 auch Hans Modrow deutlich vor Augen – dem letzten DDR-Regierungschef mit einem SED-Parteibuch. Er hatte ein paar Tage vor Helmut Kohl Moskau besucht. In der Hauptstadt des auseinanderstrebenden sowjetischen Imperiums war ihm unmissverständlich erklärt worden: Der große Bruder hält nicht mehr schützend seine Hand über den einstigen Musterknaben der sozialistischen Staatenfamilie. Davor hatte sich die Staats- und Parteiführung der DDR immer gefürchtet. Nun war sie der Dynamik des Einigungsprozesses ausgesetzt, erinnert sich Ernst-Jörg von Studnitz, später deutscher Botschafter in Moskau. Als Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin sowie im Auswärtigen Amt in Bonn hat er den Prozess der Einigung miterlebt:
    "Man darf natürlich nicht vergessen, dass parallel auch die Verhandlungen der Russen mit den Amerikanern liefen. Und da ist dann in diesen Februartagen bereits dieses Format 2+4 verabredet worden. Und es war schon der deutsche Wunsch, dass es nicht 4+2 hieß, was die Fortsetzung der Kriegskoalition gewesen wäre, sondern nein, 2+4. Das ist da festgelegt worden. Und der Besuch von Kohl in Moskau war ein ganz wichtiger Meilenstein auf diesem Wege."
    Dieser Weg, darin bestand zwischen Gorbatschow und Kohl Einvernehmen, sollte ein europäischer sein. Der Generalsekretär der KPdSU wollte am "Gemeinsamen Haus Europa" bauen, Helmut Kohl stand die westeuropäische Staatengemeinschaft vor Augen.
    "Wir beide waren uns ebenfalls einig, dass die Deutsche Frage nur auf der Grundlage der Realitäten zu lösen ist. Das heißt, sie muss eingebettet sein in die gesamteuropäische Architektur und in den Gesamtprozess der West-Ost-Beziehungen. Wir müssen die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und unserer Freunde und Partner in Europa und in der Welt berücksichtigen. Es liegt jetzt an uns Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR, dass wir diesen gemeinsamen Weg mit Augenmaß, mit Sinn für das Mögliche mit Entschlossenheit gehen."
    Widerwillen gegen deutsche Einheit
    Kohls Entschlossenheit und Begeisterung für eine rasche staatliche Einheit lösten international bekanntlich Widerwillen aus: In Rom und London, aber auch in Paris weckte die Vorstellung einer gesamtdeutschen Macht Furcht. Der französische Staatspräsident François Mitterrand hatte kurz vor Weihnachten 1989 erst einmal die DDR besucht und damit ein ambivalentes Signal gesetzt, so Ulrich Pfeil, Professor für Deutschlandstudien an der Universität Metz:
    "Anfang Januar trafen sich dann Kohl und Mitterrand im Privathaus von Mitterrand im Privathaus Mitterrands in Südwestfrankreich. Da gibt es die berühmten Bilder, wo sie am Strand am Atlantik gemeinsam spazieren gehen. Das war ein Schritt von Mitterrand, wo er gemerkt hat, die Einheit mag kommen. Und hier war es für Mitterrand immer wichtig, dass Deutschland nicht neutral wird, dass Deutschland in Europa verankert bleibt. Für Mitterrand, der in historischen Dimensionen immer sehr stark dachte, war auch die Grenzfrage sehr wichtig, gerade die Oder-Neiße-Linie, die Grenze eben nach Polen. Hier drängte er Kohl immer wieder auch, sich öffentlich für diese Grenze auszusprechen. Wir wissen, dass Kohl sicherlich aus innenpolitischen Gründen lange zögerte, das zu mindestens offiziell so zu formulieren. Als letztlich auch diese Grenzfrage geklärt war, ging auch Mitterrand den Weg zur Einheit mit."
    Und er beschleunigte zugleich den europäischen Einigungsprozess. Ziel war eine politische Union mit einer gemeinsamen europäischen Währung, wie sie schließlich in Maastricht zwei Jahre später beschlossen wurde. Dennoch – die Wiedervereinigung ist nicht erkauft, die D-Mark nicht dem Euro geopfert worden, hält der Forscher Pfeil entgegen.
    "Man muss ja sehen, dass die Diskussion über eine gemeinsame europäische Währung auf Helmut Schmidt und Valéry Giscard d´Estaing zurückgeht, die dann in Folge auch von Kohl und Mitterrand schon weit vor 1989 diskutiert wurden. Sie, diese Diskussionen wurden intensiviert, nach dem Mauerfall im Rahmen dieser Bemühungen von Mitterrand, dass ein wieder vereinigtes Deutschland Teil von Europa und der Europäischen Integration bleibt, insoweit spielte der Euro eine Rolle, aber dass ein Deal stattfand – so kann man es nicht formulieren."
    Freie Wahl des Verteidigungsbündnisses
    Mit Blick auf eine langfristig den Frieden in Europa sichernde Vertragslandschaft stellte sich 1990 auch die Frage nach künftigen Sicherheitspartnerschaften. Michail Gorbatschow schwebte zunächst die Bündnisfreiheit vor. In den Verhandlungen mit Kohl gestand er einem vereinigten Deutschland aber Souveränität zu – auch in der Wahl des künftigen Verteidigungsbündnisses. Auch in dieser Frage war Helmut Kohl bereits im Februar 1990 entschieden:
    "Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Ich habe als die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass das geeinte Deutschland Mitglied des atlantischen Bündnisses sein möchte und ich bin sicher, dies entspricht auch der Ansicht der Regierung der DDR."
    Der Kanzler antizipierte die Haltung der DDR. Der ohnehin im eigenen Machtapparat angezählte Gorbatschow aber konnte verständlicherweise über einen Zusammenbruch des östlichen Bündnisses nicht öffentlich sprechen. Der Bundesaußenminister machte dennoch gegenüber der sowjetischen Seite eine eventuelle Ausdehnung des westlichen Verteidigungsbündnisses gen Osten zum Thema:
    "Hans Dietrich Genscher hat im Februar 1990 in Moskau relativ weitreichende Andeutungen darüber gemacht, dass sich die NATO im Fall der Wiedervereinigung nicht nach Osten ausdehnen würde und hinzugefügt, er meine das ganz generell, womit er unter anderem Polen und Ungarn meinte. Es hat aber in diesem Punkt keine Zusicherungen, keine Vereinbarungen gegeben, das ist ein Punkt der Debatte in einem fließenden Prozess gewesen, an dem sich insbesondere die USA von dieser Position auch sehr bald wieder entfernt haben. Also: Belastbare Zusicherungen des Westens, auf die sich Putin und die Russen später hätten berufen können, die hat es nicht gegeben."
    Das bestätigte auch Gorbatschow bei seinem Besuch in Berlin im vergangenen Jahr. Die Frage der NATO-Osterweiterung habe sich ihm damals, 1990 nicht gestellt, denn noch war von einer Weltordnung ohne Warschauer Pakt nicht die Rede. Vielmehr ging es in den turbulenten Monaten konkret um den Abzug der sowjetischen Soldaten – in DDR offizieller Diktion: der "zeitweilig auf dem Territorium der DDR stationierten Gruppe der sowjetischen Streitkräfte". Die Bundesregierung finanzierte deren Umzug und baute Offiziersunterkünfte, gewährte Kredite für die Sowjetunion – und verhandelte über die Ausgestaltung der Einheit, für die es keinen Masterplan gab.
    Bundeskanzler Helmut Kohl spricht am Abend des 19. Dezember 1989 zu der riesigen Menschenmenge, die sich anlässlich seines Besuches eingefunden hat. Kohl hielt sich zu einem zweitägigen Besuch in der sächsischen Stadt auf und wurde an beiden Tagen von der DDR-Bevölkerung stürmisch gefeiert.
    Helmut Kohl in Dresden 1989 (dpa / picture alliance)
    Helmut Kohl hatte das Heft des Handelns in der Hand. Bereits Ende November 1989 hatte er mit dem Zehn-Punkte-Plan sein großes Ziel offengelegt: das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten. Von vielen DDR-Bürgern war die überraschende Initiative, von der Kohl auch in Moskau nicht abwich, dankbar aufgenommen worden, erinnert sich später Horst Teltschik, damals außen- und sicherheitspolitischer Berater Kohls:
    "Die Sicherheit, dass es in diese Richtung gehen könnte, hat der Bundeskanzler gewonnen bei seinem Besuch in Dresden am 19. Dezember, wo Tausende Dresdner Bürger sich für die Wiedervereinigung laut jubelnd mit zum Teil westdeutschen Fahnen, wo die herkamen, weiß ich gar nicht, zum Ausdruck brachten, dass sie die Einheit wollten."
    Gorbatschows Schlüsselerlebnis in der DDR
    Ein paar Wochen zuvor hatte auch Michail Gorbatschow auf einer Reise in die DDR ein Schlüsselerlebnis: Bei seinem letzten Besuch in Ost-Berlin vor dem Mauerfall feierte die greise SED-Spitze am 7. Oktober ungerührt den 40. Geburtstag der Republik. Gleichzeitig gingen die Sicherheitsorgane gewaltsam gegen Demonstranten vor, die den Namen des sowjetischen Reformers skandierten, in den sie große Hoffnung setzten. Gorbatschow machte sich beim Spaziergang Unter den Linden selbst ein Bild. Dabei fiel der historische Satz über das Zuspätkommen, der – falsch zitiert – in die Geschichte eingehen sollte:
    "Ich bin sicher, dass jedes Volk selbst bestimmen wird, was in seinem eigenen Land notwendig ist. – Meinen Sie, dass die Situation in der DDR jetzt gefährlich ist? – Ich denke nicht. Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren."
    Auf einer Reise in den westlichen Teil Deutschlands indes hatte Gorbatschow eine ganz andere Stimmung aufgenommen. Bei seinem Staatsbesuch im Sommer 1989 in Bonn war ihm die überbordende Gorbi-Manie, die hohe Erwartung der westdeutschen Öffentlichkeit an ihn als Modernisierer begegnet. Und er hatte eine Beziehung zu Helmut Kohl geknüpft, die immer wieder als politische Freundschaft gedeutet wurde, so der Historiker Andreas Rödder:
    "Der Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik hat in der Tat zu einer deutlichen Annäherung, auch persönlich, zwischen Kohl und Gorbatschow geführt, Kohl selbst berichtet, dass er spätabends nach Mitternacht auf einer Parkbank im Park des Kanzleramts gesessen habe und mit Gorbatschow den Rhein betrachtet habe und mit ihm darüber ein stillschweigendes Einvernehmen erzielt habe, dass so, wie der Rhein in die Nordsee fließe, so auch die Geschichte fließe und die Deutsche Frage offen sei und irgendwann zu einem Ziel käme. Nun, es ist niemand dabei gewesen, der diese Überlieferung Kohls bestätigen oder widerlegen könnte, insofern mag auch da manches mythisch sein."
    Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im April 1986
    Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im April 1986 (picture alliance / dpa / Tass)
    Diese mythische Harmonie überdeckte einen alten Fauxpas des Kanzlers: 1986 hatte Helmut Kohl den frischgekürten Generalsekretär in einem Zeitungsinterview als modernen kommunistischen Führer bezeichnet, als jemanden, der etwas von PR versteht. Und dann den unsäglichen Vergleich angestellt, Goebbels habe auch etwas von PR verstanden. Der Diplomat Ernst-Jörg von Studnitz erklärt, wie Kohl und Gorbatschow dessen ungeachtet zueinanderfanden:
    "Gorbatschow ist ein Mensch, der eine stark entwickelte emotionale Seite hat und dem Kohl ist es gelungen, diese Seite zum Klingen zu bringen. Und zwar während des Besuchs in Bonn. Die beiden haben sich über ihre Erlebnisse im Kriege ausgetauscht. Sie sind ungefähr die gleiche Generation, die haben beide als junge Menschen, die nicht mehr wehrdienstpflichtig waren, die Leiden des Krieges erfahren: Gorbatschow im Kaukasus unter deutscher Besetzung und Kohl durch die Kriegsereignisse, einschließlich des Todes des älteren Bruders. Und dann ist für beide der Schluss gewesen: So etwas darf nie wieder passieren, wir müssen im Verhältnis zwischen Russen und Deutschen eine neue Grundlage schaffen, die auf gegenseitigem Vertrauen begründet ist."
    Beziehung ja - aber keine Freundschaft
    Der aus Ungarn stammende Gorbatschow-Biograf György Dalos beschreibt, dass "Mischa" und "Gelmut" – in russischer Aussprache – sich geduzt haben, aber er bezweifelt, dass beider Beziehung eine Freundschaft war oder ist.
    "Er war beeindruckt von Kohl, von seiner praktischen Vernunft. Und Kohl war auch beeindruckt von einem Sowjetführer, der nicht mehr in das Kalte-Krieg-Feindbild passte. Und es gab einen Respekt vor Gorbatschow, einen intellektuellen Respekt wegen seiner Kommunikationsfähigkeit, aber von seiner Seite war es keine Liebesgeschichte."
    Beide aber hatten ein Gespür für den historischen Moment, für politische Stimmungen und wussten diese zu nutzen, befindet der Historiker Andreas Rödder:
    "Interessant ist, dass in der deutschen Öffentlichkeit Gorbatschow im Juni 1989 sehr viel stärker gefeiert wurde, sehr viel populärer war als George Bush, der zwei Wochen zuvor in der Mainzer Rheingoldhalle seine große Rede über partnership in leadership gehalten hatte – das stand in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber der Euphorie für Gorbatschow zurück."
    So sehr diese Öffentlichkeit in Ost und West Anfang 1990 gespalten war in jene, die eine rasche staatliche Einheit anstrebten und die anderen, die der Zweistaatlichkeit mit reformierter DDR anhingen – Michail Gorbatschows vage Vision des "Gemeinsamen Hauses Europa" begeisterte viele Menschen. Die Stimmung war günstig, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher bemerkten, wie das lange eisige Verhältnis zur Sowjetunion auftaute. Sie erkannten Gorbatschows innenpolitische Schwierigkeiten und lieferten zur Linderung der wirtschaftlichen Not Lebensmittel in die Sowjetunion – ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, urteilt György Dalos:
    "Alle haben plötzlich die Chance gesehen: Gorbatschow und seine Berater wollten das bezahlen lassen, die DDR bezahlen lassen, und Kohl war bereit zu zahlen und war zahlungsfähig. Er brauchte aus zwei Gründen eine rasche Lösung, erstens, weil das Vakuum DDR gefährlich war, zweitens weil Gorbatschows innenpolitische Situation schwankend wurde. Die hatten schon 1987 Angst gehabt, weil es CIA-Berichte über einen möglichen Sturz von Gorbatschow gab, die Stalinisten kommen zurück und diese ganze Geschichte wird nicht mehr auf die Tagesordnung kommen."
    Kohls Strickjacke im Haus der Geschichte
    Gorbatschow konnte sich nur bis 1991 an der Staatsspitze halten, ihn retteten weder sein Verhandlungsgeschick noch sein unbedingter Wille zum Umbruch. Im vergangenen Jahr besuchte er zum 25. Jahrestag des Mauerfalls Berlin. Korrekt im Anzug – wie auch Kohl an jenem 10. Februar 1990 in Moskau. Auf den späteren Treffen im Kaukasus wählten die Ehepaare Kohl und Gorbatschow legere Oberbekleidung – und ließen sich in dieser bekanntlich wirkungsvoll ablichten. Kohls Strickjacke ist längst im Haus der Geschichte ausgestellt – Symbol für den vertrauten Umgang unter Staatsmännern, die Außergewöhnliches erreichen wollten:
    "Der Begriff Strickjackendiplomatie klingt etwas kumpelhaft vertraulich, jovial und da stellt man sich die Welt zu einfach vor. Er hat aber etwas Richtiges an sich: nämlich, dass insbesondere Helmut Kohl persönliche Beziehungen zum Gegenstand von Politik gemacht hat. Insofern ist der Begriff wieder richtig. Als er uns vor Augen führt, dass die persönlichen Beziehungen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs eine wichtige Rolle spielen, die man nicht unterschätzen darf."