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Kohleausstieg bis 2038
"Wir brauchen eine gute Energieinfrastruktur"

Eine Verteufelung der Industrie sei nicht zielführend, sagte Anja Weber, DGB-Vorsitzende in NRW, im Dlf. Denn diese sei "ein Teil der Lösung" beim Kohleausstieg. Soziale Gerechtigkeit, ökologische Vernunft und ökonomische Verantwortung müssten im Gleichklang vorangetrieben werden.

Anja Weber im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 30.11.2019
Eon-Kraftwerk Datteln 4 beim Dortmund-Ems-Kanal
Schwer nachvollziehbar, dass ein Kraftwerk, das sehr emissionsarm Kohlestrom produzieren kann, nicht ans Netz gehen soll, sagte Anja Weber vom Deutschen Gewerkschaftsbund im Dlf (imago / blickwinkel / S. Ziesex)
Jürgen Zurheide: Klimaproteste gibt es, und kein Ende – heute zum Beispiel in der Lausitz, dort in den Braunkohlerevieren, gestern waren Fridays for Future, davor hat das Europäische Parlament den Klimanotstand ausgerufen. Diese Schlagzeilen beherrschen die politische Arena. Allerdings gibt es auch ein paar sorgenvolle Fragen: Wie geht’s denn nun weiter mit den Klimaprotesten auf der einen Seite und der Industrie auf der anderen Seite? Passt das irgendwie zusammen? Wer wird den Preis zahlen, wenn sich denn irgendetwas ändert? Darüber wollen wir reden mit Anja Weber, DGB-Vorsitzende aus Nordrhein-Westfalen. Frau Weber, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie 50.000 junge Menschen gestern zum Beispiel in Berlin sehen?
Anja Weber: Also erst mal glaube ich, ist es wirklich gut, dass junge Menschen Druck machen, dass sich was bewegt, und wir Gewerkschaften sind ja auch in vielen guten Dialogen, glaube ich, gerade mit den jungen Menschen von Fridays for Future. Wir haben sehr viel Übereinstimmung, mir geht allerdings auch durch den Kopf, wir müssen deutlich machen, die Lage ist ernst. Wir dürfen aber auch keinesfalls in Panik verfallen oder Panik machen, und wir müssen uns einfach zutrauen, dass wir das hinkriegen, dass wir soziale Gerechtigkeit, ökologische Vernunft und ökonomische Verantwortung im Gleichklang vorantreiben. Alle drei Dinge brauchen wir, und das ist natürlich eine große Herausforderung.
"2038 komplett raus aus der Kohle"
Zurheide: Könnte man sagen, da ist noch viel Luft nach oben? Da sagen ja viele im Moment, Panik wird zum Politikprinzip – ich hab’s schon mal in dieser Sendung zitiert, die Kollegen der "Welt" haben das gestern so getitelt. Ich will mal zugespitzt fragen: Beobachten Sie da gelegentlich nicht auch so eine Art von Radikalität, die außer Acht lässt, dass ein Weg von heute zu Klimaneutralität nicht so ganz einfach zu schaffen ist?
Weber: Ja, ich glaube, es ist vor allen Dingen wichtig zu klären, wer hier welche Rollen hat. Unsere Rolle als Gewerkschaft und ich glaube auch die Aufgabe generell von politischen Organisationen ist tatsächlich sozusagen, den Handlungsdruck aufzugreifen und daraus dann aber die Wege aufzuzeigen. Und ich glaube, es ist wichtig – und das wünsche ich mir auch –, dass mehr wahrgenommen wird. Wir haben ja einen sehr guten Weg in diesem Jahr angefangen, wir haben die Ergebnisse der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung – die nennt man ja kurz Kohlekommission –, und da haben alle mitgearbeitet und einen gesellschaftlichen Konsens erarbeitet, dass wir 2038 komplett raus sind aus der Kohle und bis dahin ja schon jetzt Schritt für Schritt Kohleverstromung aufgeben und abschalten. Das ist wirklich eine riesige Herausforderung, auf die haben wir Gewerkschaften uns auch nur eingelassen, weil wir auch Meilensteine dazwischen aufgebaut haben. Und ich glaube, es ist wichtig zu sehen, dass sich gerade Wege auftun und dass wir jetzt diese Wege vorantreiben. Da wünsche ich mir in der Tat, dass wir mehr über den konkreten Weg streiten und nicht so stark in den Grundsatzdebatten uns verfangen.
Eine Frau trägt viele Einkaufstüten in der rechten Hand.
Klima und Konsum - Die Macht und Ohnmacht der Verbraucher - Nahezu alle Wissenschaftler sind sich einig, dass die Klimakrise von uns Menschen verursacht wird. Um etwas zu verändern, müssen wir anders wirtschaften.

Zurheide: Ja, ich will gleich noch mit Ihnen konkret über Transformation auch in den Revieren reden, aber vorab noch mal die Frage: Vielen reicht das ja nicht, was da beschlossen worden ist, und das wird dann sofort wieder auch skandalisiert, und dann heißt es, wir müssen das alles und müssen sofort. Ich beobachte gelegentlich bei den jungen Menschen, dass man sagt, die Ziele können ja richtig sein, nur entscheidend ist der Weg, von A nach B zu kommen, und das wird eine gewisse Zeitspanne brauchen, und man muss die Mehrheit der Menschen mitnehmen. Das ist ja genau ein Teil des Problems, oder beobachte ich das falsch?
"Streiten über Wege, aber nicht über Grundsatzdebatten"
Weber: Nein, das sehe ich genauso. Es gab ja mal einen Film, der hatte den Filmtitel "Angst essen Seele auf". Ich glaube, das ist etwas sehr Wichtiges, und wie gesagt, da glaube ich auch, dass gerade Erwachsene, dass politische Organisationen auch eine Verantwortung haben, wir müssen den jungen Menschen auch Mut machen. Es geht immer darum, und das muss man, glaube ich, akzeptieren und auch realisieren. Wir schaffen es nur, wenn wir soziale Gerechtigkeit, ökologische Verantwortung und ökonomische Vernunft zusammen nach vorne schieben, und dann kann das auch gelingen. Wir haben eine Reihe von guten Ansatzpunkten tatsächlich jetzt auch in der ökologischen Debatte, aber ebenso – Sie haben es angesprochen – in den anderen Transformationsthemen. Das hängt ja auch miteinander zusammen, nach vorne zu kommen. Also in der Tat, ich finde auch, wir müssen streiten über die konkreten Wege, und es ist nicht hilfreich, sich in Grundsatzdebatten zu verfangen, und schon gar nicht hilfreich, einmal gefundene Wege und Kompromisse wieder aufzuknöpfen. Wenn es schneller geht, können wir schneller gehen, aber – und das haben Sie auch gesagt – es geht auch immer um gesellschaftliche Mehrheiten. Wir müssen an vielen Punkten auch neue gesellschaftliche Mehrheiten und Konsense organisieren, deshalb bin ich so froh, dass wir an dem Punkt Kohleausstieg einen Kompromiss haben.
Zurheide: Ja, aber der wird ja genau wieder diskutiert. Da haben wir so eine nette Entscheidung in Nordrhein-Westfalen, dieses Kraftwerk Datteln 4 von E.on, geht das noch ans Netz. Die einen sagen ja, damit – das sagt Herr Laschet –, dann gehen die Emissionen zurück, weil andere Kraftwerke vom Netz genommen werden, aber wenn man sich die Rechnungen genau anschaut, dann weiß man das nicht genau. Da wird es dann konkret, und da entstehen so neue Symbole, wo man ja sagen muss oder voraussagen kann, wenn das wirklich ans Netz gehen sollte, wird es da heftige Auseinandersetzungen geben.
Weber: Ja, ich glaube, gerade bei der Kohleausstiegsdiskussion ist jetzt Symbolpolitik in der Tat nicht hilfreich. Was bei Datteln 4 passiert, muss meines Erachtens jetzt konkret in den Verhandlungen um das Kohleausstiegsgesetz und in der Umsetzung verhandelt werden. Auf der einen Seite – das muss man ehrlich sagen – ist es schwer nachvollziehbar, dass eines der modernsten Kraftwerke, die sehr emissionsarm Kohlestrom produzieren können, dass das nicht ans Netz gehen soll. Und jetzt sagen die einen – Sie haben es beschrieben –, das geht nicht im Rahmen des Kompromisses, die anderen sagen, das geht im Rahmen des Kompromisses, und es ist in der Tat, glaube ich, so, das muss ausgehandelt werden. Wichtig dabei ist, das ist aus meiner Sicht auch die erste Priorität, der Kohlekompromiss selbst darf nicht gefährdet werden. Aber dass natürlich jetzt an jedem Punkt sozusagen noch mal der konkrete Weg ausgehandelt werden muss, welche Kraftwerke müssen vom Netz genommen werden, wie geht es weiter, das ist jetzt die Aufgabe, die hoffentlich jetzt sehr zeitnah umgesetzt wird.
"Datteln 4 nicht zum Symbol für den Kohleausstieg machen"
Zurheide: Wobei, die Maßgabe müsste ja sein, wenn es denn ans Netz gehen sollte, müssen wirklich so viele andere Kraftwerke real vom Netz, dass diese Rechnung weniger Emissionen auch aufgeht. Also da gibt es auch eine Bringschuld derjenigen, die so was wollen. Stimmen Sie dem zu?
Weber: Absolut, ja, absolut, absolut. Und das werden natürlich jetzt sozusagen noch mal auch harte Verhandlungen von allen Beteiligten werden, deshalb ist es auch gut sozusagen, wenn es einen guten gesellschaftlichen Druck gibt. Aber man sollte auch tatsächlich nicht jetzt Datteln 4 zum Symbol für den Kohleausstieg machen, sondern es geht darum, dass wir möglichst Emissionen herunterfahren, dass wir möglichst wenig CO2 verbrauchen, und da ist ein Gesamtblick tatsächlich sinnvoll und notwendig im Rahmen des Kompromisses, den die Kohlekommission ausgehandelt hat.
Zurheide: Jetzt kommen wir zum sozialen Ausgleich. Ich hab’s vorhin schon gesagt, jede dieser Entscheidungen hat immer gesellschaftliche Gewinner und gesellschaftliche Verlierer. Was wollen Sie als Gewerkschaften, wie wollen Sie dafür sorgen, dass die Menschen, die bei Ihnen am Ende Beiträge zahlen, nicht zu den Verlierern gehören?
Weber: Wir haben ja auch wieder in dem Kohlekompromiss zwei Komponenten drin: Wir haben – und deshalb, finde ich, ist es auch so besonders und ist es auch ein Leitbild für Zukunftsgestaltung, die wir jetzt natürlich umsetzen müssen –, wir haben auf der einen Seite den Aspekt des Strukturwandels, wo gesagt worden ist, wir investieren in neue Arbeitsplätze, in Qualifizierung, wir schaffen Strukturen, wo auch Gewerkschaften, wo die Sozialpartner auch eingebunden sind, um diesen Strukturwandel zu begleiten. Das passiert zum Beispiel jetzt in Nordrhein-Westfalen. Wir haben sehr darauf gedrängt, und endlich ist es auch passiert: Die Landesregierung hat einen Beirat für den Strukturwandel einberufen, da sind Wissenschaftler drin, da ist die Arbeitsagentur drin, da sind Unternehmensverbände drin und eben auch Gewerkschaften drin, wo wir sozusagen versuchen, die Leitplanken zu gestalten, also die Frage, wie schaffen wir es, in den vorgegebenen Zeiten die Energieinfrastruktur hinzukriegen. Das ist eine Riesenherausforderung, und die muss man wirklich ernst nehmen. Das macht uns auch Sorgen – Sie haben das angesprochen – in Nordrhein-Westfalen, wir haben eine sehr energieintensive Industrie, die brauchen wir auch. Wenn wir den Klimawandel stoppen wollen und wenn wir CO2-neutral arbeiten wollen, dann ist es natürlich auch sinnvoll, dass die Industrie weiter in Nordrhein-Westfalen ist. Es macht ja keinen Sinn, dass wir dann Produkte, möglicherweise unter schlechterem Umweltbedingungen produziert – von extern nach NRW importieren. Deshalb brauchen wir eine gute Energieinfrastruktur. Es werden neue Arbeitsplätze entstehen, das sind aber nicht die, auf denen die Menschen im Moment sind. Das heißt, da ist einmal die Frage, was kann man an Übergängen schaffen, wie kann man neu qualifizieren …
Klare und gute Rahmenbedingung für die Transformation
Zurheide: Vor allen Dingen, wenn sie die nicht schaffen, wenn ich Sie unterbrechen darf, dann haben bestimmte Parteien, über die wir heute schon berichtet haben, noch mehr Zulauf, denn die bestreiten das ja.
Weber: So ist es. Deshalb muss man einfach sehen. Also wir Gewerkschaften sprechen ja auch von Transformation, wir brauchen wirklich einen großen Umwandlungsprozess. Und es kann gelingen, aber es wird nur gelingen, wenn wir wirklich die drei Stränge – soziale Gerechtigkeit, ökonomische Verantwortlichkeit … Die Dinge müssen auch für die Industrie in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen bezahlbar bleiben, auch verlässlich bleiben. Wir brauchen Industrieprodukte auch in der Zukunft, und im Gegenteil, wir müssen, glaube ich, lernen, dass Industrie ein Teil der Lösung ist. Und deshalb: Transformation, klare und gute Rahmenbedingungen, aber die Gesamtverteufelung, das geht auf gar keinen Fall, und das führt uns auch nicht in eine gute Zukunft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.