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Kolonialismus und Sklaverei
Streit um Großbritanniens heimliche Nationalhymnen

Kulturerbe oder unzeitgemäße Verherrlichung von Unterdrückung? Die Texte der traditionellen britischen Lieder "Rule Britannia" und "Land of Hope and Glory" werden dieses Jahr nicht bei der Klassikkonzertreihe "The Proms" gesungen. Mit dieser Entscheidung hat die BBC eine heftige Debatte entfacht.

Von Burkhard Birke | 29.08.2020
Fahnenschwenkendes Publikum bei der "Last Night of the Proms", dem Abschluss der BBC-Konzertreihe "The Proms" in der Royal Albert Hall in London 2014
Fahnenschwenkendes Publikum bei der "Last Night of the Proms", dem Abschluss der BBC-Konzertreihe "The Proms" in der Royal Albert Hall in London 2014 (picture alliance/ empics/ Guy Bell)
Kein trällernder Tenor im schillernden Kostüm, kein Begleitchor Fähnchen-schwenkender Zuschauer in der Royal Albert Hall in London: Nüchtern instrumental sollen am 12. September, dem letzten Abend der "Proms", Großbritanniens heimliche Nationalhymnen erschallen. Ohnehin sind wegen Corona Zuschauer nicht zugelassen. Die Konzerte werden im Radioprogramm der BBC übertragen. Seit 1927 veranstaltet die öffentlich-rechtliche BBC diese legendäre, 1895 gegründete Konzertreihe. Zum ersten Mal verzichtet der Sender jedoch auf die Texte von "Land of Hope and Glory" und "Rule Britannia".
Für Kehinde Andrews, Professor für "Black Studies" - Studien über Schwarze - an der Universität von Birmingham, war die Entscheidung der BBC überfällig: "Briten sollen niemals Sklaven werden, heißt es da: Das ist doch rassistische Propaganda aus einer Zeit, als Großbritannien eine führende Nation im Sklavenhandel war. Es ist eine Schande, dass wir die Diskussion darüber erst jetzt führen. In meiner Schule wurde das Lied schon vor 20 Jahren gestrichen, weil es als nicht zeitgemäß und beleidigend eingestuft wurde."
Eigentlich müsste das 1902 komponierte Lied "Land of Hope and Glory" – Land der Hoffnung und des Ruhms - in "Land des Rassismus und der Unterwerfung" unbenannt werden – argumentiert Andrews.
Die Statue von Colston wird von Demonstranten in den Fluss Avon in Bristol geworfen. 
Statuensturz in Bristol - "Koloniale Denkmäler auf den Kopf stellen"
Die Statue des ehemaligen Sklavenhändlers Edward Colston zu stürzen, hält der Historiker Jürgen Zimmerer für richtig. Das gelte allerdings nicht automatisch für alle deutschen Kolonialdenkmäler oder Straßennamen, sagte er im Dlf.
"Dieses Lied bereitet vielen Menschen viel Freude"
Laut Umfragen scheint eine Mehrheit der Briten, selbst Menschen aus ethnischen Minderheiten, die unter dem Empire gelitten haben, eher keine Probleme mit den Texten zu haben. Die Publizistin Inaya Folarin Iman ist eine von ihnen: "Dieses Lied bereitet vielen Menschen viel Freude. Die Mehrheit denkt doch nicht, dass jetzt die Kolonialherrschaft und Sklaverei wiederhergestellt werden sollen, wenn sie das hören. Es hat eine neue Bedeutung bekommen, steht für den Nationalstolz jenseits von ethnischen, rassistischen oder Geschlechter-Grenzen."
Solche Worte sind Wasser auf die Mühlen von Premierminister Boris Johnson, der sich über die BBC Entscheidung hörbar echauffierte: "Wir sollten aufhören, uns wegen unserer Geschichte und Kultur zu schämen." Und: Keine Selbstdiskriminierung, forderte ein sichtlich erboster Johnson bei einem Besuch in Devon Anfang der Woche. Kein Wunder – ist doch "Land of Hope and Glory" so etwas wie die Hymne seiner Tories, die jeden Parteitag beendet. Den Brexit als britischen Unabhängigkeitstag proklamierte Boris Johnson zuletzt und beschwor – das Land der Hoffnung und des Ruhms.
"Rule Britannia" - Song der schottischen Fußballfans
Was den Tories dieser Song, ist den Fußballfans der Glasgow Rangers "Rule Britannia". Wobei man nicht weiß, ob die schottischen Fußballfans die Aussage, Großbritannien möge die Welt regieren, nicht ironisch meinen und sich selbst eher als Sklaven der Engländer sehen.
"Ich glaube, es gab nie den Hintergedanken an Afrika bei der Zeile: Briten sollen niemals Sklaven werden", sagt der Kulturhistoriker Robert Colls "Da bezog man sich auf andere Tyrannen in Europa, gegen die Großbritannien endlose Kriege führte. Geschrieben wurde das Lied für eine Oper namens 'Alfred', Alfred dem Großen, der England zu einem Nationalstaat gemacht hat."
Die Komposition stammt aus dem Jahr 1740. Kulturerbe oder unzeitgemäße Verherrlichung von Unterdrückung? Eines haben Fußball- und Klassikfans dieses Jahr gemeinsam: Sie müssen "Rule Britannia" zu Hause singen.
"Das Merkwürdige ist, dass die meisten Briten keine Klassik hören und ihnen die Proms egal sind", sagt Kulturhistoriker Robert Colls. "Die Leute, die zu den Konzerten gehen und ‚Rule Britannia‘ und ‚Land of Hope and Glory‘ singen, stammen aus der Mittelschicht Südenglands, sind meist weiß, gut gebildet, und ich versichere Ihnen, das sind die am wenigsten imperialistischen Briten."
Und die dürfen nächstes Jahr auch wieder die Texte singen, wie die BBC mitgeteilt hat – sofern Corona nicht wieder einen Strich durch die "Last Night of the Proms" macht.