Samstag, 20. April 2024

Archiv


Komisch und grauenvoll

Möglicherweise ist Ror Wolf erst in jüngster Zeit bei den Personen angekommen, die er so gern direkt anspricht, den Lesern. Sie begreifen das Aufsplittern und neue Zusammensetzen von Geschichten nicht mehr als Marotte eines modernen Schriftstellers, weil sie das Leben in Fragmenten täglich am eigenen Leib erfahren. Bei Wolf werden sie in eine Welt versetzt, in der es komisch zugeht und grauenvoll.

Von Joachim Büthe | 28.06.2007
    "Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen etwas aus meinem Leben erzähle. Mein Leben war uninteressant. Mein Leben war kahl, still, ereignislos und eigentlich nicht erwähnenswert. Mein Leben floss so dahin, es war ein unauffälliges Vorbeitreiben an ganz kleinen Bewegungen oder an gar nichts, von Anfang an, bis zu diesem Moment, bis jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, um Ihnen etwas aus meinem Leben zu erzählen.

    Ich stamme aus einer Familie von erfolglosen Verbrechern, von einsamen Mördern, die keine Opfer fanden, unglücklichen Dieben, denen nur leere Brieftaschen in die Hände fielen, von erkälteten Schauspielern, die ihre Texte verschluckten, ruinierten Betrügern, ausgepfiffenen Pianisten, verschollenen Forschern und verzweifelten, in die falsche Richtung reisenden Reisenden."

    Was für ein Anfang, um einen der originellsten deutschen Schriftsteller zu würdigen, aber so beginnt nun mal die neunundvierzigste und bei weitem längste Ausschweifung, die Ror Wolf seinem vor ein paar Jahren erschienenen Prosaband "Zwei oder drei Jahre später" hinzugefügt hat und der jetzt in erweiterter Form erschienen ist. Man kann diesen Text durchaus autobiografisch lesen, wenn man bedenkt, dass bei Ror Wolf die Realität nie einfach abgebildet, sondern verschoben wird in die Wolfsche Parallelwelt, in der auch nach den fantastischsten Abenteuern immer wieder behauptet wird, es sei gar nichts passiert. Und deshalb ist es selbstverständlich, dass in dem Moment, da er zu erzählen beginnt, sich die Ereignisse überschlagen.

    "Als der Dampfer gesunken war, klammerte ich mich an eine vorübertreibende Mastspitze, möglicherweise, ich erinnere mich nicht so genau. So floss ich dahin. Das Meer war sehr still. Die Luft war ganz weich. Die Haifische, die sich zuweilen in meiner Schwimmweste festbissen, konnten mir nicht viel anhaben. Ich fühlte mich den Umständen entsprechend gut. Die Aussicht auf Rettung war gering, aber ich wurde dennoch gerettet, denn endlich, im Jahre 59, erschien in der Ferne ein fettiger Tanker, der Kapitän winkte mit seiner Mütze, und ich wurde gerettet, ging an Bord und übernahm die Aufgabe des Maschinisten, der gerade an einer unbekannten Krankheit verstorben war."

    Ror Wolf erzählt sein Leben als eine abenteuerliche Reise, in der die späten 50er Jahre als eine Kette von Schiffsuntergängen wiederkehren, aus denen unser Held wundersam unversehrt hervorgeht, so schlimm es auch kommen mag. Dass es Anknüpfungspunkte gibt zur realen Situation eines DDR-Flüchtlings, der sich im Westen mühsam durchschlagen musste, ist ebenso offensichtlich wie die Tatsache, dass es der Leser von alledem gar nichts wissen muss, um diesen kleinen Roman genießen zu können. Der geübte Ror-Wolf-Leser wird allerdings bemerken, wie Motive und Schreibweisen in ihm wiederkehren, von "Pilzer und Pelzer" bis zur späten Kurzprosa. Das trägt einerseits die Züge eines Resümees, andererseits trägt es sie überhaupt nicht, denn in gewisser Weise ist das Wolfsche Oeuvre ein permanentes Wiederaufnahmeverfahren. Er stellt an sich so hohe Ansprüche, dass er es immer wieder versuchen muss: noch einmal, noch besser oder wenigstens genau so gut.

    "Ich möchte versuchen, vollkommene Prosa zu schreiben. Das ist nur ein Versuch. Das kann nie ganz glücklich ausgehen, weil die sogenannte Vollkommenheit etwas nahezu Unerreichbares ist. Aber es geht um eine ganz hohe selbstgemachte Qualität."

    Es fällt Ror Wolf schwer, einen Themenkomplex endgültig abzuschließen. Vom Fußball hat er sich getrennt, die Wirklichkeitsfabrik, in der die "Enzyklopädie für unerschrockene Leser" manufakturiert worden ist, hat ihr Personal verabschiedet, und auch Hans Waldmann, der unzerstörbare Held der gleichnamigen Abenteuer im Gedicht, hat seinen Abschied genommen. Wirklich? In "Pfeifers Reisen", dem Gedichtband, den es hier anzuzeigen gilt, kehrt er zurück, ihm ist ein vierter Zyklus zugewachsen. Und, verweisend auf die enge Verbindung nicht nur von Prosa und Poesie, sondern auch vom Autor und seinem Personal im Wolfschen Werk, ereilt auch ihn wie seinen Erfinder das Schicksal eines unangenehmen Krankenhausaufenthalts. Das ist nicht sein Ende, er wechselt den Versfuß und kommt als Dr. Pfeifer zurück, gelassen wie eh und je, ein wenig gesetzter vielleicht, doch mit der Aussicht, dass seine Abenteuer und Reisen ihre Wirkung nicht verfehlt haben, auch wenn es manchmal so schien.

    "Möglicherweise bildet man sich das ein. Ich kann dagegen halten, dass ich zunehmend jüngere Leser bekomme. Das ist ein Phänomen, dass ich seit ein paar Jahren beobachte. Das bedeutet doch aber, dass es das Bedürfnis gibt, sich außerhalb der gängigen Medienpfade zu bewegen. Möglicherweise gibt es da Leute, die nach etwas suchen, was nicht an jedem Kiosk hängt.

    Mir scheint es auch, die Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Dingen wächst dann, wenn es zuviel davon gibt. Deshalb halte ich die Titelflut auf dem Buchmarkt für problematisch. Ich freue mich, wenn ein Buch nicht an jeder Ecke zu finden ist. Das bringt mich zurück in eine Zeit, in der ich alles, was ich haben wollte, nur mit gewissen Schwierigkeiten erreichen konnte."

    Möglicherweise ist Ror Wolf erst in den letzten Jahren bei den Personen angekommen, die er so gern direkt anspricht, den Lesern. Sie begreifen das Aufsplittern und neue Zusammensetzen von Geschichten nicht mehr als Marotte eines modernen Schriftstellers, weil sie das Leben in Fragmenten täglich am eigenen Leib erfahren. Und möglicherweise werden dann die geradlinig erzählten, realistischen Geschichten als besonders künstlich kenntlich. Bei Ror Wolf werden sie in eine Welt versetzt, in der es komisch zugeht und grauenvoll, ganz wie im richtigen Leben, auch wenn diese Welt sich häufig im Interieur der alten Abenteuergeschichten einrichtet. Jules Verne wohnt bei Ror Wolf in der unmittelbaren Nähe von Kafka und Beckett und dass die beiden letzteren auch ihre komischen Seiten haben, hat sich inzwischen ebenfalls herumgesprochen.

    "Meine Texte sind in den großen Bereich der Tragikomödie einzuordnen. Die Tragikomödie entspricht meinem Charakter. Ein durchgehend tragisches Konzept kann ich nicht durchhalten, weil es mir immer wieder zu durchsichtig, zu sentimental und pathetisch wird. Das krieg eich nicht hin. Ich könnte es schon, indem ich mich verstelle, aber das will ich nicht. Das ausschließlich Unbeschwert-Lustige auf der anderen Seite liegt mir auch nicht. Obwohl es mir schon sehr wichtig ist, wenn mir Leser sagen, sie hätten bei meinen Texten lachen müssen. Das finde ich großartig."

    Ror Wolf ist immer und nicht zuletzt ein Autor für seine Kollegen gewesen. Brigitte Kronauer, Ludwig Harig, Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid waren und sind eloquente Advokaten seines Werks. Sie haben es eben etwas eher bemerkt, wie makellos und einzigartig dieses, und jetzt zitiere ich den Jubilar selbst, dieses Komplott aus Leichtigkeit, Schwermut, Spiel, Ernst, Skurrilität, Lust, Spaß und Entsetzen ist. In den späten Gedichten, die den Abschluss von "Pfeifers Reisen" bilden, überwiegt allerdings die Schwermut. Aber noch immer hat er sich mit Hilfe der Literatur, mit Hilfe seiner Helden, aus ihrem Griff befreit.

    "Man muss ja sehen, dass die Katastrophen in der Regel für meine Helden nicht tödlich enden, also immer halb so wild sind. Ein reiner Melancholiker bin ich sicherlich nicht. Obwohl ich zweifellos einen Hang dazu habe. Kein Wunder, bei meiner Biografie. So ganz reibungslos verlief dieses Leben ja nicht. Die ersten fünfzehn Jahre, nachdem ich nach Westdeutschland gekommen bin, waren wirklich gnadenlos. Wenn man sich über Jahre in Untermieterzimmern aufhalten muss, da passieren eine Menge schrecklicher Kleinkatastrophen. Es war damals überhaupt nicht absehbar, dass sich dieser Zustand irgendwann ändern würde."

    Womit wir wieder bei der neunundvierzigsten biografischen Ausschweifung wären, die natürlich auch die positiven Wendungen dieses unter dem Strich erfolgreichen Autorenlebens reflektiert. Wir begeben uns direkt an das Ende des sechsten Kapitels und wünschen ihm, der niemals zu schreiben aufhören wird, er möge dies noch lange tun, gesund und in der Verfassung, in der wir ihn vorfinden, am Ende dieses sechsten Kapitels.

    ""Ich war hinausgefahren in die weite unberechenbare Welt, erbarmungslos vom Sturm dahingetrieben, herumgeschleudert und mit Gewalt in den Abgrund gerissen. Doch ich hielt mich nicht lange in der Tiefe auf. Später bin ich in eine knarrende Dürre gekommen, in ein kratzendes wasserloses Land, das mich wund rieb. Ich sah jemand kalt zwischen den Bergen stehen, aber das gehört in einen ganz anderen Zusammenhang, an eine andere Stelle meiner Notizen. Ich hatte vieles erlebt und vergessen und dachte nicht mehr daran. Und nun war ich sogar im Begriff, glücklich zu werden, hier, am Ende des sechsten Kapitels."


    Ror Wolf: Zwei oder drei Jahre später. Neunundvierzig Ausschweifungen
    Schöffling & Co., geb.
    200 Seiten, 18,90 Euro

    Ror Wolf: Pfeifers Reisen. Gedichte
    Schöffling & Co., geb.
    258 Seiten, 19,90 Euro

    Christian Brückner liest Ror Wolf: Zwei oder drei Jahre später. Die neunundvierzigste Ausschweifung
    Edition parlando, 2CDs
    35.40 Minuten, 9,95 Euro