
Morgen versammeln sich die Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu ihrer regulären Sitzung in Straßburg. Wie immer ist die Woche thematisch dicht gepackt, doch Routine wird sich in den nächsten Tagen nicht einstellen. Keine vier Wochen ist es her, dass sich das Parlament, diese, wie gerne gesagt wird, einzige übernationale, frei gewählte Volksvertretung der Welt, zum 70. Geburtstag selbstbewusst gefeiert hat. Seit Freitag aber weisen alle Indizien darauf hin, dass dieses Parlament mit einem fetten, in seinem Umfang noch nicht absehbaren, Korruptionsskandal in den eigenen Reihen konfrontiert ist. Und dies bis in die Spitze.
Bisherige Einzelheiten bedienen alle Facetten eines Skandals
Noch wird ermittelt, doch die bisher bekannten Einzelheiten bedienen alle Facetten eines Skandals, der den Ruf des Parlaments schon jetzt beschädigt. Eine Vize-Präsidentin, Eva Kaili aus Griechenland, sitzt in Untersuchungshaft, ein sagenhaft reicher Golf-Staat, ausgerechnet Katar, soll die Fäden gezogen und Einfluss und Entscheidungen gekauft haben. Verdächtige, die in flagranti ertappt werden, Koffer und Taschen voller Geld inklusive. Noch wird ermittelt, aber wie heikel diese Affäre ist, verdeutlichen die schnellen Reaktionen der Politik. Kaili ist umgehend aus der griechischen Pasok-Partei ausgeschlossen worden, ihre Mitarbeit in der vom Skandal besonders betroffenen sozialdemokratischen Fraktion im Parlament ruht, ebenso ihre Aufgaben als Vize-Präsidentin.
Eva Kaili – öffentliche Würdigung von Reformen in Katar
Noch wird ermittelt, doch wer Eva Kaili in den letzten Wochen aufmerksam folgte, konnte misstrauisch werden. Warum ihre öffentliche Würdigung vermeintlich erfolgreicher Reformen in Katar im Plenum des Parlaments, eine Position, die in ihrer Fraktion für Verwunderung und Stirnrunzeln führte und warum ihre Stimmabgabe in der Ausschuss-Entscheidung rund um Visa-Erleichterungen für Katar, obwohl sie weder Mitglied noch Stellvertreterin war und niemand sie darum gebeten hatte, ihre Stimme stellvertretend abzugeben?
Gut möglich, dass dieser Skandal Kreise zieht, heute wurde bereits die Durchsuchung eines weiteren Abgeordnetenbüros bekannt. Wer die Mittel und den Willen hat, parlamentarische Entscheidungen zu beeinflussen, wird eher auf Netzwerke und nicht auf Einzelpersonen zielen. Auch um die große Mehrheit der Abgeordneten zu schützen, die sich Tag für Tag bemühen, dieses Parlament wirklich zur glaubwürdigen Stimme aller Europäer und Europäerinnen zu machen, müssen Transparenzregeln überprüft und verbessert werden. In Brüssel tummeln sich etwa 25-tausend Lobbyisten.
Drittländer sind von Offenlegungspflichten ausgenommen
Seit Freitag wird auf bestehende Regeln für Parlamentarier hingewiesen, Regeln, die den Vergleich mit nationalen Parlamenten nicht scheuen müssen. Doch gleichzeitig sind viele dieser Regeln freiwillig, ihre Kontrolle ist unzureichend und die Tatsache, dass Drittländer von Offenlegungspflichten ausgenommen sind, bildet eine Lücke, so groß wie ein Scheunentor.
Noch während diese Affäre hochkocht, muss in Brüssel in den nächsten Tagen entschieden werden, ob Ungarn, auch aufgrund von Mängeln in der Korruptionsbekämpfung, EU-Milliarden gesperrt werden. Eine harte Linie gegenüber denjenigen, die glauben, politische Entscheidungen kaufen zu können, ist noch einmal wichtiger geworden.


Klaus Remme, geboren in Cloppenburg. Studium der Politischen Wissenschaften und Osteuropäische Geschichte in Freiburg und Wien. Berufliche Stationen: Institute for Defense & Disarmament Studies, Boston, BBC World Service, London, Norddeutscher Rundfunk. Seit 1996 beim Deutschlandfunk. Von 2007 bis 2012 Korrespondent von Deutschlandradio in Washington und von 2012 bis 2022 Korrespondent im Hauptstadtstudio mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik. Seitdem berichtet er für das Deutschlandradio aus dem Studio Brüssel.