Donnerstag, 18. April 2024

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Kommentare im Internet
"Ein Narzissmus, der kaum an die Folgen denkt"

Viele Kommentare im Internet fallen unter den Tatbestand der Beleidigung oder der Volksverhetzung. Dabei scheinen die Konsequenzen den Kommentatoren immer öfter vollkommen egal zu sein, sagte der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie im DLF. Doch die Meinungsfreiheit ende dort, wo Gesetze übertreten würden.

Claus Leggewie im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 29.08.2015
    Ein Mann mit Strohhut, Sonnenbrille und Notebook auf dem Schoß
    Kommunikation in sozialen Medien und Kommentarfunktionen im Netz fördern ein Maß von Narzissmus bei den Nutzern, bei dem die Konsequenzen nicht mehr beachtet werden, sagt der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance/dpa/Britta Pedersen)
    Burkhard Müller-Ullrich: Neue Kommunikationsformen bringen auch immer neue Sitten mit sich, und natürlich neue Unsitten. Das Internet, das den globalen Austausch aller Angeschlossenen ermöglicht, stellt hier eine besondere Herausforderung dar. Deswegen hat sich schon früh eine sogenannte Netiquette etabliert: Regeln, was man wie sagen beziehungsweise schreiben darf. Doch gerade bei politischen Themen werden die Umgangsformen immer rauer. Es wird gepöbelt und gedroht, per E-Mail und in Foren, unterhalb jeder Gürtellinie und außerhalb des rechtlichen Rahmens.
    Der Chefredakteur von "Cicero", Christoph Schwennicke, berichtet: "Kürzlich wollte jemand die Mail-Adresse eines anderen Diskutanten, um sich für gemeinsame Schießübungen gegen Flüchtlinge zu verabreden." Deshalb hat Schwennicke jetzt klipp und klar auf "Cicero Online" angekündigt: "Entweder das hört auf, oder wir schalten die Kommentarfunktion ab."
    "Hier sind die Grenzen bei Weitem überschritten"
    Frage an den Politikwissenschaftler Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen: Nähern wir uns jetzt dem Ende der vielbeschworenen Netzdemokratie?
    Claus Leggewie: Na ja, mit Demokratie hat das erst mal wenig zu tun. Wenn sich alle äußern, ist das erst mal, dass sie ihre Meinungs- oder Meinungsäußerungsfreiheit in Anspruch nehmen. Da würde ich sehr weit gehen, dass viele Meinungen geduldet werden müssen, auch wenn sie mir nicht passen. Das Wesen von Toleranz besteht genau darin, dass ich etwas, was mir nicht passt, toleriere. Hier sind aber die Grenzen bei Weitem überschritten.
    Das heißt, was solche Redaktionen, was Einzelpersonen, was ich auch persönlich bekomme, das fällt unter den Volksverhetzungs-Tatbestand oder unter den Beleidigungs-Tatbestand. Beleidigt werden die jeweiligen Akteure individuell und es werden ganze Gruppen, in diesem Zusammenhang dann vor allen Dingen Flüchtlinge, aber auch Politiker und Pressevertreter kollektiv in einer Weise beschimpft, die die Meinungsfreiheit an die Grenzen stoßen lässt, die sie immer schon gehabt hat: Da, wo der Anstand verletzt ist, und da, wo auch Gesetze übertreten werden.
    Was neu ist, ist eigentlich, dass es überhaupt diese Kommentarfunktionen gibt, die nicht mehr von einer Redaktion beaufsichtigt, kontrolliert, wenn man so will auch zensiert werden können, also vorsortiert werden können, vieles, was früher auch der Deutschlandfunk, auch eine Zeitung an Meinungen und Zuschriften bekommen hat, die sie nicht gedruckt hat. Heute kommt sehr viel mehr aus dieser früher verborgenen Gesellschaft in die Öffentlichkeit, in die Teilöffentlichkeit. Dinge erscheinen, die früher nicht erschienen wären, und das Problem bei all diesen sozialen Medien ist, dass sie in einem Rahmen erscheinen, in dem es eigentlich vor allen Dingen gleichgesinnte Meinungen gibt.
    "Hetz-Kommentare und illegale Aktionen liegen nah beieinander"
    Es gibt sehr wenige Selbstkontroll-, Selbstkorrektur-Instanzen in solchen Meinungsforen und erschwerend kommt hinzu, dass diese Meinungsforen sehr nah sind an den Aktionsfronten. Neonazis, die die Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen, sind gleichzeitig dann diejenigen, die zu den nächsten Aktionen hier und da auffordern.
    Müller-Ullrich: Das war jetzt ein ganzer Schwung von Einzelheiten, die wir vielleicht noch vertiefen sollten. Ich fange mal hinten an: Sie sagen, nah an den Aktionsfronten. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass man das Reden oder das Senden oder das Schreiben im Internet nur unterbinden müsste, dann würden auch die Aktionen ausbleiben.
    Leggewie: Natürlich nicht. Es ist nur so, dass sehr viel stärker, als das früher in den konventionellen Medien öffentliche Meinung war, hier Aktion und Meinung sehr nah beieinander sind. Das heißt, Sie haben eine Seite A, in der gehetzt wird, und eine Seite B, in der zur nächsten Aktion an diesem oder jenem Ort aufgefordert wird. Die Meinungsfreiheit würde für A gelten, sofern sie nicht unter Volksverhetzung und Beleidigung fällt.
    Das Zweite ist aber hier ein Aufruf zu illegalen Aktionen oder zu diskriminierenden oder gewaltsamen Aktionen, und ich sage nur, dass das sehr nah beieinander liegt, und für Menschen, die sich da nicht so auskennen und die nicht zu differenzieren wissen, ist dann der Schritt von der Meinung zur Tat nicht mehr so problematisch, wie er es vielleicht einmal gewesen ist, oder so schwierig, und das scheint, im Moment sich abzuspielen: Da, wo man eben nicht mehr nur hetzt, sondern auch zur Tat schreitet.
    "Vernünftige Diskussionen finden meist nicht mehr statt"
    Müller-Ullrich: Die Phänomene, über die wir hier sprechen, nehmen massenhaft zu. So viel ist gewiss. Und sie nehmen unter anderem wohl auch zu, weil es in diesen sozialen Medien und im Internet überhaupt die Möglichkeit anonymer Kundgebung gibt. Es gibt ja einen Wirkungszusammenhang, dass man, wenn man namentlich nicht bekannt ist, eher dazu neigt, ein bisschen aufzudrehen.
    Leggewie: Das ist richtig. Die Anonymität ist eigentlich eine Errungenschaft der Netzkommunikation, weil sie zwei Dinge erlaubt. Stellen Sie sich diktatoriale, autoritäre Regime vor. Da ist es sehr wichtig, dass die Namen der betreffenden Personen nicht veröffentlicht werden. Geheimdienste haben mittlerweile längst ihre Mittel und Wege gefunden, um sie trotzdem herauszufinden.
    Das zweite, was hier passiert, ist, dass die Nichtnennung eines Namens natürlich auch Hierarchien in der Meinungsbildung weniger respektiert. Das heißt, es ist nicht nur die prominente Meinung gefragt, sondern auch die Meinung eines Jedermenschen. Das waren einmal die Vorteile der Anonymität. Sie haben sich längst in ihr Gegenteil verkehrt.
    Und wenn Sie sich anschauen, was in vielen Meinungsseiten läuft, in den sozialen Medien, dann aber auch zum Teil in den Kommentarspalten oder Online-Kommentaren von Zeitungsartikeln - ob das nun die "TAZ" oder die "WAZ" ist -, dann sehen Sie dort ein Überhandnehmen von Kommentaren, die einfach unter der Gürtellinie sind, so dass die ganze Hoffnung, die einmal darin bestand, dass sich jeder Mensch an der Meinungsbildung ungeachtet von Hierarchien und ungeachtet von Rang, Status und dergleichen beteiligen kann, dass die längst ins Gegenteil umgeschlagen worden ist, denn die meisten Leute, die vernünftig diskutieren wollen, nehmen ja genau nicht mehr an diesen Foren teil.
    Jetzt kommt aber hinzu, dass neuerdings sich die Hetzer auch unter Klarnamen melden, von ihren Firmencomputern. Ich bekomme Post von Leuten, die mir das Schlimmste an den Hals wünschen. Darunter steht ein Name, den es wirklich gibt, und ich kann auch rückverfolgen, aus welchem Büro das kommt. Das ist übrigens der Grund, dass es derzeit eine ziemlich große Zahl von Strafanzeigen von Arbeitgebern gibt, die natürlich um ihren Ruf fürchten. Das zeigt ein bisschen, was in den sozialen Medien los ist.
    "Ich hab mich ausgekotzt und die Folgen sind egal"
    Es ist ein Maß von Narzissmus erreicht, also eine Selbstbezüglichkeit, die kaum noch an die Folgen des eigenen Tuns denkt, die im Großen und Ganzen völlig selbstbezüglich ist: Ich habe hier mal mich - Entschuldigung, dass ich das so sage - ausgekotzt und das reicht mir jetzt auch, und was die Konsequenzen sind, was andere davon denken, ob sie vielleicht verletzt sind, ist mir völlig egal. Das ist eine Tendenz, die durch die sozialen Medien und durch die anonyme Kommunikation, aber auch die Klarnamen-Kommunikation im Internet sehr unterstützt wird.
    Müller-Ullrich: ... sagt Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.