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Kommissar Chen führt durch Shanghai

Das ist schon ausgesprochen ungewöhnlich: ein Dichter, der Kriminalromane schreibt, in denen der Kommissar zu seiner Entspannung Gedichte verfasst und während der Suche nach den Mördern Gedichte zitiert. Der chinesische Schriftsteller Qiu Xiaolong hat das Genre eindeutig bereichert mit seinem Shanghaier Kommissar Chen, der zwischen allen Fronten steht, und den Leser in eine Gesellschaft einführt, die dem Westen ziemlich fremd ist. Das geschah vorsätzlich und ganz bewusst. Xiaolongs Romane wollen ein Sittengemälde des heutigen Chinas zeichnen.

Von Johannes Kaiser | 31.01.2005
    Ich gehöre der Generation an, die während der Kulturrevolution aufs Land verschickt werden sollte, um von armen Bauern der Unterschicht umerzogen zu werden. Ich hatte das Glück – vielleicht kann man es so nicht nennen - , dass ich krank war. Aufgrund meines Gesundheitszustandes gestattete man mir, solange in der Stadt zu bleiben, bis ich wieder soweit genesen war, dass man mich hätte aufs Land schicken können. Aber noch bevor ich wieder gesund war, verlor die Bewegung an Schwung. Also blieb ich weiterhin zu hause, ging nicht zur Schule, hatte nichts zu tun. So besuchte ich den Bund Park in Shanghai, der den Hintergrund für meinen zweiten Roman bildet, um dort Tai-Chi zu üben. Darin war ich nicht besonders gut. Doch es gab dort Leute, die anhand von Mao-Zitaten englisch lernten, Lehrbücher gab es damals nicht, und das schien mir eine gute Idee zu sein. Wenn die das machen konnten, könnte ich es auch. Also fing ich an zu lernen.

    Seine Englischkenntnisse verhalfen dem 1953 in Shanghai geborenen chinesischen Schriftsteller Qiu Xiaolong nach dem endgültigen Aus der Kulturrevolution 1976, als die geschlossenen Bildungsinstitutionen wieder geöffnet wurden, zu einer beschleunigten Zulassung zum Englisch- und Literaturstudium. Dort traf er auf die moderne westliche Lyrik in Gestalt des amerikanischen Dichters T.S. Eliot, denn einer seiner Professoren war nicht nur selbst ein bekannter moderner Dichter, sondern zudem begeisterter T.S. Eliot Leser.

    Das steckt schon einige Ironie drin. In den spätern 70er, früher 80er Jahren gab es den politischen Slogan der vier Modernisierungen in China, die der Landwirtschaft, der Industrie, der Wissenschaft und sonst noch was. Einige Kritiker behaupteten daraufhin, um zu begreifen, was Modernisierung für China bedeute, müsse man wissen, was Modernisierung überhaupt bedeute. Man nutzte das als Entschuldigung dafür, moderne Dichtung wie die von T.S. Eliot zu veröffentlichen, auch wenn die Gedichte politisch nicht ganz korrekt waren.


    Qiu Xialong fing nicht nur an, T.S. Eliot Verse zu übersetzen, sondern auch eigene Gedichte zu schreiben. Die gefielen den Herausgebern der damals aufkommenden halbwegs unzensierten Literaturzeitschriften so gut, dass man sie abdruckte. Ihre Veröffentlichung brachte ihm die Aufnahme in den staatlichen Schriftstellerverband ein, was wiederum die Voraussetzung dafür war, dass er sich neben seiner Arbeit an der Akademie der Sozialwissenschaften einen paar Yuan als Übersetzer amerikanischer Literatur dazuverdienen konnte. Seine Sprachkenntnisse brachten ihm 1988 dann ein Stipendium in den USA ein. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen Platz in Peking beschloss er, nicht zurückzukehren, anstelle dessen an der Washington University in St. Louis sein Literaturstudium zu beenden und dann zu promovieren. Seit 1994 ist er dort Professor für Chinesische Literatur. Das Gedichtschreiben hat er bis heute nicht aufgegeben. Immer wieder erscheinen von ihm Verse sowohl in Englisch als auch in Chinesisch. Warum in aller Welt hat er dann angefangen, Kriminalromane zu schreiben?

    1995 kehrte ich zum ersten Mal nach China zurück. Ich war von all den Veränderungen beeindruckt, nicht nur den neuen Gebäuden und den neuen Autobahnen, sondern auch von den Veränderungen bei den Menschen, in der Ideologie, im Wertesystem dieser Übergangsperiode. Ich wollte über diese Veränderungen schreiben, aber meine Dichtung taugt nur dazu, meine Gefühlswelt gut auszudrücken. Ein Panorama der Gesellschaft zu entwerfen, gelingt so nicht. Ich habe es ausprobiert. Aber es ist sehr schwer. Also kam ich auf die Idee, anstelle dessen einen Roman zu schreiben und aus dem wurde ein Krimi.

    Man muss Qui Xiaolongs Werdegang nicht kennen, um Oberinspektor Chen Cao von der Shanghaier Polizei zu mögen, aber es hilft, denn der Ermittler ähnelt seinem geistigen Vater in vielerlei Hinsicht. Auch der Polizist entging als Kind der kulturrevolutionären Landverschickung und lernte, wie wir im zweiten Roman 'Die Frau mit dem roten Herzen’ erfahren, in einem Shanghaier Park englisch. Außerdem liebt der Polizist Gedichte, die er bei jeder Gelegenheit anbringt. Ab und an schreibt er auch selbst welche, ist sogar Mitglied der Schriftstellerverbandes. Für Qui Xiaolong sind solche Vorlieben in China gar nicht so ungewöhnlich:

    Wenn man über die Tradition der chinesischen Literatur redet: in ihr finden wir eine Menge Lyrik. So gibt es bei mir jedes Mal ein Gedicht, wenn eine neue Figur vorgestellt wird. Das steht durchaus in der Tradition. Der augenblickliche Premierminister Wen Jiabao ist bekannt dafür, dass er in seinen Reden Gedichte zitiert. Dafür ist er so bekannt geworden, dass bei einer Pressekonferenz einer der Reporter ihn als erstes danach fragte, welches Gedicht er denn diesmal zitieren wolle. Schon der gerade zurückgetretene Präsident Jiang Zemin mochte Dichtung. Und Mao Zedong war selbst Dichter. Das ist also Teil der chinesischen Kultur.

    Immer wenn es dem Ermittler schlecht geht oder er seine Gefühle nicht offen zeigen mag, hat er ein passendes Gedicht zur Hand. Und das ist ziemlich oft der Fall, denn Chens Fälle erweisen sich jedes Mal als heikle Ermittlungen in der Grauzone von Verbrechen und Politik. Als Parteimitglied genießt er zwar die Protektion seines oberstes Chefs, aber man erwartet von ihm auch Rücksichtnahme auf die Belange der Partei. Zwar soll er die Korruption in den Behörden bekämpfen, aber manche Verbindung besser nicht näher untersuchen.

    Ich würde ihn als Antihelden sehen. Er ist ein Überlebenskünstler, auch in der Politik. Er weiß, was ihm möglich ist und was nicht. Er steckt voll innerer Widersprüche, denn er ist von seinem Vater, einem Konfuzius-Schüler geprägt. Eines der hohen Prinzipien lautet: ein Mann hat selbst dann etwas zu unternehmen, wenn er weißt, dass es unmöglich ist. Er steckt also zwischen zwei Welten. Als politischer Mensch weiß er genau, was er nicht unternehmen darf. Als guter Polizist weiß er aber auch, dass er etwas unternehmen muss. Durch diese Widersprüche sucht er sich mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich einen Weg.

    Der Tote, der in einem Shanghaier Park entdeckt wird, ist aller Voraussicht nach einem Triaden-Verbrechen zum Opfer gefallen. Dafür sprechen die rituellen 17 Axthiebe, mit denen er umgebracht wurde. Dass es in China Mitte der neunziger Jahre, da spielt der Fall, wieder Verbrechergeheimbünde gibt, ist allerdings nur möglich, weil sie die Protektion hoher Politiker genießen. Oberinspektor Chen und seinem engen Mitarbeiter Yu ist sofort klar, dass sie bei ihren Ermittlungen vorsichtig vorgehen müssen. Man bremst sie schon gleich im Anfangsstadium, indem man Chen zum Anstandswauwau einer amerikanischen FBI-Beamtin abkommandiert. Sie soll die Ehefrau eines chinesischen Menschenschmugglers abholen, der sich bereiterklärt hat, als Kronzeuge gegen seine Komplizen auszupacken. Voraussetzung ist allerdings, dass seine Frau sicher in die USA überführt wird. Nur ist die spurlos verschwunden und die Umstände ihrer Flucht sind ausgesprochen rätselhaft. Chen hat eine undankbare Aufgabe zu schultern. Einerseits soll er die Amerikanerin ablenken und unterhalten, andererseits die untergetauchte Frau wiederfinden. Das lässt sich nicht lange vor der Kollegin verbergen und schon bald geht man gemeinsam auf die Suche, die das ungleiche Ermittlerpärchen durch alle Gesellschaftsschichten Chinas führt. Die chinesisch sprechende Amerikanerin gibt Qiu Xiaolong die elegante Möglichkeit, alles für westliche Besucher Unbekannte und Unverständliche zu erklären, so wie sich auch der Schriftsteller bei seinen regelmäßigen Heimatbesuchen von seinen Freunden und Verwandten über die neusten Entwicklungen aufklären lässt.

    Für mich ist das eine Gesellschaft im Übergang, ganz speziell vom sozialistischen oder kommunistischen System zu einem in der Praxis kapitalistischen. Nur die Ideologie ist weiterhin die eines Einparteiensystems, einer autoritären Gesellschaft. Die Wirtschaft funktioniert. Der Lebensstandard der Menschen hat sich verbessert. Und was kommt dann? Ich versuche also in meinem Buch diese Übergangsphase zu zeigen. Die größte Veränderung, die ich sehe, ist diese Art von Materialismus. Die Leute schauen ausschließlich auf das Materielle. In der Vergangenheit glaubten die Chinesen an die Lehren des Konfuzius. Nach 1949 glaubten sie an den Marxismus oder Maoismus. Nach der Tiananmen Tragödie, würde ich sagen, glauben die Menschen an gar nichts mehr. Sie schauen nur noch aufs Geld. Wir haben eine politische Redensart, die heißt: Schau nach vorn, in die Zukunft. Aber sie kann bei gleicher Betonung ebenso bedeuten: Achte auf das Geld. Und die Menschen schauen nur nach dem Geld.

    Auch das macht Oberinspektor Chen und seine Mitarbeiter zu Ausnahmefällen: sie sind unbestechlich, aber keine politischen Selbstmörder. Sie kennen genau ihre Grenzen. Auch wenn die Wahrheit letztlich herauskommt, es siegt doch der Kompromiss. Um das besser zu verdauen, widmet sich der Shanghaier Polizist gerne dem leiblichen Wohl und darin gleicht er all seinen Landleuten. Nichts entspannt ihn so wie ein gutes Essen. Gerne schwelgt Qui Xiaolong in Kochkünsten. Nicht zuletzt deswegen wecken seine Romane den Appetit auf mehr.