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Kommunismus
Eine Geschichte von Gleichheit und Terror

Der Publizist und Historiker Gerd Koenen war in den 70ern Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland. Später schrieb er für ein Frankfurter Sponti-Magazin. In seinen Büchern setzt er sich kritisch mit der linken Bewegung auseinander. Jetzt hat er ein gewaltiges Buch über die Geschichte des Kommunismus vorgelegt: "Die Farbe Rot".

Von Martin Hubert | 23.10.2017
    Der Philosoph Karl Marx
    Der Philosoph Karl Marx (imago stock&people)
    Da ist die uralte Idee, ja Sehnsucht nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft, die die Bedürfnisse und Interessen aller befriedigen soll. Und da ist die lange Spur von Diktatur, Propaganda, Terror und Verrat, die die kommunistische Bewegung in der Geschichte hinterlassen hat. Man muss Koenen bescheinigen, dass er wirklich alles getan hat, um der widersprüchlichen Geschichte des Kommunismus in seinem Buch gerecht zu werden.
    Er versucht, die einzelnen kommunistischen Systeme als Antwort auf die Probleme des Kapitalismus zu begreifen und als Produkt der Länder und Kulturen, in denen sie entstanden sind. Und er zeichnet die Entwicklungsgeschichte der kommunistischen Ideen detailliert nach. Die Farbe Rot symbolisiert für ihn dabei leitmotivisch die überzeitliche, ja menschheitsgeschichtliche Dimension des Kommunismus, wenn er schreibt:
    "Rot ist die Farbe, die dich mit allen anderen Menschen 'kommunistisch' verbindet. Gerade deshalb ist sie aber auch die Farbe der äußersten Gegensätze und der tiefsten Trennungen, Blut bedeutet Leben oder Tod."
    Zwischen Paradies und Erziehungsdiktatur
    Um die menschheitsgeschichtlichen Wurzeln des Kommunismus freizulegen, untersucht Koenen nicht nur frühe Stammesgesellschaften. Er durchforstet auch die Gemeinschafts-ideen frühchristlicher und chinesischer Religionen, antiker Philosophien, messianischer Bewegungen und literarischer Utopien. Schon hier stößt Koenen immer wieder auf Gegensätze: zwischen dem Traum vom Paradies und rigiden Ordnungsvorstellungen, der Sehnsucht nach Frieden und Harmonie und der Lust zur Erziehungsdiktatur. Sein Bericht über die frühen Zeugnisse des kommunistischen Denkens mündet schließlich in eine interessante These.
    "Der moderne Kommunismus war der erste theoretisch argumentierende Versuch, diese kulturellen Überlieferungen und die widerstreitenden Triebe und Affekte durch Aufklärung oder Propaganda, durch Erziehung oder Zwang zu filtern und zu selektieren, die einen zu fördern und die anderen zu unterdrücken. Der atheistische Furor, die utopischen Beschwörungen eines 'neuen Menschen' in den formativen Jahren des Bolschewismus oder der bilderstürmerische Kampf der chinesischen Roten Garden waren Ausdruck dieses im Wortsinn totalitären Gestaltungsanspruchs, der keineswegs nur durch Gewalt funktionierte."
    Der moderne Kommunismus wird als Versuch sichtbar, alle historischen Sehnsüchte und Utopien neu zu synthetisieren. Für Koenen war es das Hauptanliegen von Karl Marx, die alten Gemeinschaftsbedürfnisse und Gerechtigkeitsideen von ihrem archaischen Charakter zu befreien und sie wissenschaftlich zu begründen.
    Das Individuum im Kommunismus
    Dabei idealisiert Koenen Marx keineswegs. Er schildert seine illusionären Revolutionserwartungen und macht deutlich, wie wenig sein Bild vom revolutionären Proletariat der Realität entsprach. Doch Koenen wendet sich entschieden dagegen, Marx eine naive kommunistische Gleichheitsideologie zu unterstellen, in der das Individuum untergeht.
    "In einer höheren Stufe einer kommunistischen Gesellschaft werde man sich irgendwann auf die Fahnen schreiben können 'Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!' Aber wäre das endlich ein Reich der Gleichheit? Ganz im Gegenteil - dann mussten die unterschiedlichen Neigungen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Lebensentwürfe der Individuen ja erst recht zur freien Entfaltung kommen."
    Koenen relativiert auch die Neigung von Marx, Naturgesetze der sozialen und geschichtlichen Entwicklung aufstellen zu wollen. Marx habe diese eher als Tendenzen verstanden und selbst Gegenbewegungen gegen sie beschrieben. Zwar gäbe es zum Beispiel das Gesetz zum tendenziellen Fall der Profitrate, die Unternehmen könnten ihm aber mit verschiedenen Maßnahmen entgegentreten. Marx blieb also nach Koenen immer auch Wissenschaftler und kritischer Analytiker der Gesellschaft. Erst August Bebel, der Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, habe dann eine quasi naturwüchsige Entwicklung zum Kommunismus hin prophezeit.
    Krieg, Kolonialismus, Kapitalismus
    Erst ab dem 20. Jahrhundert kann man von "dem Kommunismus" als politischen Systemen sprechen. Koenen schildert sehr ausführlich die Entwicklung in Russland und China, mit Abstechern nach Kuba, Vietnam, Nordkorea und zu den Roten Khmer. Er beschreibt die ökonomischen Misserfolge der einzelnen Systeme, genauso wie ihren Hang zu Autorität und Gewalt und kommt zu der These, dass hier noch einmal ein entscheidender Wandel eingetreten sei:
    "Sein historisches Momentum hat der Kommunismus weniger aus sich selbst geschöpft, aus seinen großen Ideen oder Ideologien, seinem Pathos der Brüderlichkeit oder aus seinen utopischen Allmachtsphantasien und berauschenden Fortschrittsprojekten – als vielmehr aus den Katastrophen des Weltkriegszeitalters, den Krisen und Konflikten des europäischen Imperialismus und Kolonialismus und aus den Krisen und Krämpfen eines global sich durchsetzenden Kapitalismus. Erst sie haben den kommunistischen Kampfbewegungen die Waffen, die Argumente und die moralische Kraft geliefert, wie materielle Klasseninteressen oder blasse Erlösungshoffnungen sie allein nie hätten liefern können."
    Für China und die UDSSR ist der Kommunismus nach Koenen vor allem ein Mittel zur Nationenbildung und zur Selbstbehauptung gegen den kapitalistischen Westen gewesen. Sein Buch endet mit der treffenden Beschreibung eines Dilemmas.
    Der Kommunismus: eine utopische Verirrung?
    Die Krisen des Kapitalismus gehen weiter - aber das Projekt des Kommunismus scheint nach den bisherigen Erfahrungen weder erfolgversprechend noch wünschenswert zu sein. Wobei Koenen nicht auf alternative Projekte eingeht, die sozusagen von unten versuchen, eine antikapitalistische Bewegung zu begründen, etwa mit den Konzepten der "Multitude" oder der "Sharing economy". Er bleibt auf die kommunistische Staatenbildung fixiert - will aber auch nicht das endgültige Ende des Kommunismus verkünden.
    "Wird womöglich das, was man einmal als 'Kommunismus' bezeichnet hat, im heutigen China gerade neu erfunden - oder jedenfalls re-formatiert?"
    Ist der Kommunismus also ein Projekt ohne Ende? Ist er das ideelle Produkt eines menschlichen Bedürfnisses oder Reaktion auf gesellschaftliche Zustände, in denen Ungleichheit, Zerrissenheit und Ausbeutung herrschen? Oder ist er eine utopische Verirrung, die notwendig in Terror umschlagen muss? Koenens manchmal etwas ausufernder, aber anregender historischer Essay beantwortet diese Fragen nicht explizit -wirft sie aber mit großer Deutlichkeit auf. Und vielleicht ist es beim Thema Kommunismus auch besser, Fragen zu stellen als eherne Wahrheiten zu verkünden.
    Gerd Koenen: "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus."
    C.H. Beck, 1133 Seiten, 38,- Euro.