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Kommunizieren mit Kunst
Museen und die Sozialen Medien

In den letzten Jahren hat sich ein Paradigmenwechsel im (Selbst-) Verständnis von Kunstmuseen ereignet. Statt ihre Werke als autonom zu präsentieren, vermitteln sie die Exponate abwechslungsreich und setzen sie für verschiedene Typen von Publikum jeweils anders in Szene. Besucherzahlen gelten als Legitimationsgrundlage.

Von Wolfgang Ullrich | 08.11.2015
    Henri Rousseaus Werk "Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope" in der Ausstellung "Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister" im Folkwang Museum in Essen
    Henri Rousseaus Werk "Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope" in der Ausstellung "Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister" im Folkwang Museum in Essen (dpa / picture alliance / Marcel Kusch)
    Zugleich beginnen Besucher und Besucherinnen, die an sie adressierten Werke ihrerseits in die Sozialen Medien zu überführen und in ihren Online-Lifestyle zu integrieren. Kunstwerke werden also gleich mehrfach zu Medien der Kommunikation. Sie verändern dadurch ihren Charakter und leben anders als bisher in reproduzierter Form weiter. Wolfgang Ullrich unternimmt einen essayistischen Rundgang durch die Onlineangebote der Museen und die Plattformen der Sozialen Medien.

    Der Beitrag zum Nachlesen:
    Fotogenität war nie so wichtig wie heute, da mehr denn je fotografiert wird.
    Hersteller von Konsumprodukten und selbst Restaurantchefs müssen sich mittlerweile Gedanken darüber machen, wie sich ihre Verpackungen, Gestaltungen und Speisen in fotografischer Aneignung darbieten. Die falsche Beleuchtung im Restaurant kann dazu führen, dass selbst das beste Essen, von einem Gast als schnell gemachtes Foto in den Sozialen Medien kommuniziert und auf einer Fotoplattform wie Foodspotting gepostet, ekelhaft aussieht und zur Negativwerbung wird. Umgekehrt hat, wer Fotogenes bieten kann, gute Chancen, in großem Ausmaß positive Aufmerksamkeit zu erlangen, dies erst recht dank der resonanzverstärkenden Distributionsmechanismen des Internet.
    Das ist auch für Kunstmuseen von Bedeutung und verändert ihre Identität gerade ziemlich stark. Diese Veränderung stellt aber vor allem eine Weiterentwicklung der Funktionen des Museums dar, wie sie schon in den letzten Jahrzehnten mit erstaunlicher Dynamik stattgefunden hat.
    Nachdem Kunstmuseen in den ersten 150 Jahren ihrer Geschichte fast ausschließlich für das Sammeln, Bewahren und Erforschen von Werken zuständig waren, wurden sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend zu Institutionen des Ausstellens, dann auch des Vermittelns.
    Besucherzahlen als Legitimationsgrundlage
    Dass man es hierbei mit einem gewaltigen Paradigmenwechsel zu tun hat, wird an der gewandelten Bedeutung von Besuchern am deutlichsten. Galten diese den Museen lange Zeit eher als Störung oder gar als Bedrohung für die Unversehrtheit der Sammlungsstücke, stellen sie heute die Legitimationsgrundlage dar: Nur wer viele und immer noch mehr Besucher vorweist, vermag dem Druck der Geldgeber, also von Staat und Sponsoren, standzuhalten.
    Mittlerweile entscheidet sich der Rang eines Museums weniger an der Qualität von Neuerwerbungen oder am Einsatz der bestmöglichen Konservierungsmethoden, sondern an der Zahl der Besucher. Wurde diese Zahl bis in die 1970er Jahre hinein vielerorts gar nicht erhoben , weiß sie heute jeder Museumsdirektor tagesaktuell auswendig und definiert seinen Erfolg wesentlich darüber, diese Zahl immer weiter zu steigern.
    Mediale Inszenierung
    Damit dies gelingen kann, reicht es für ein Museum nicht mehr, auf die eigenen Bestände zu vertrauen. Vielmehr muss man das Publikum mit spektakulären Wechselausstellungen locken. Museen organisieren inzwischen mindestens so viele und so aufwendige Ausstellungen wie Ausstellungshäuser ohne eigene Sammlung, ja die Differenz zwischen beiden Institutionstypen ist verschwunden. Doch nicht nur was und wie viel man ausstellt, hat Folgen für den Publikumszuspruch; vielmehr ist genauso wichtig, wie das Ausgestellte präsentiert und inszeniert wird. Mehr und mehr werden Ausstellungen - oder auch Sammlungspräsentationen - zu vieldimensionalen, hochelaborierten Angelegenheiten, die für sehr unterschiedliche Zielgruppen zugleich ansprechend sein sollen.
    So gibt es Führungen für ein gebildetes Fachpublikum genauso wie Vermittlungsprogramme für Menschen aus sozialen Randgruppen, für die alles in leichte Sprache übersetzt wird. Man denkt sogar an die speziellen Bedürfnisse von Kindern, Blinden oder Demenzkranken und lässt sich immer neue Formate der Inklusion einfallen. Ferner werden Publikationen mit Einführungscharakter, aber ebenso wissenschaftliche oder essayistische Kataloge mit Texten arrivierter Schriftsteller und Intellektueller erarbeitet.
    Vor allem aber will man gerade die Teile der Gesellschaft ansprechen, die der Kunst bisher fern standen. Es ist zum hehren Ziel geworden.
    Besucher stehen in einer Sonderausstellung im Museum Folkwang in Essen; Aufnahme vom Januar 2015
    Besucher stehen in einer Sonderausstellung im Museum Folkwang in Essen; Aufnahme vom Januar 2015 (picture alliance / dpa / Caroline Seidel)
    Besucher als Zielgruppen zu begreifen, bedeutet aber auch, das Ausgestellte - die Exponate - zu adressieren.
    Während das "alte" Museum seine Sammlungsstücke für einen idealen - abstrakt-allgemeinen - Rezipienten zeigte, dem ein als zeitlos-ewig postulierter Kanon präsentiert wurde, will man heute höchst unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen entgegenkommen. War der Kustos im Museum für die ihm zugeordneten Werke und ihr Verständnis verantwortlich, ist der heutige Museums- oder Ausstellungskurator viel eher dem Publikum in all seiner Heterogenität verpflichtet; er hat dessen Bedürfnisse zu bedienen (oder überhaupt erst zu wecken) und wird die Exponate daher immer wieder in andere Zusammenhänge stellen, um möglichst verschiedenen Interessen gerecht zu werden oder auch nur für Abwechslung und Überraschung zu sorgen.
    Verschiedene Besuchertypen sollen bedient werden
    Entsprechend hat das Ausstellungsdesign - von der Beschriftung bis zur Beleuchtung - erheblich an Bedeutung gewonnen, und generell geht es in Museen um Formen des Inszenierens: um das Aufbereiten, Featuren, Moderieren des Gezeigten für diverse Typen von Besuchern, die inzwischen genauso zum Gegenstand von Marktforschung geworden sind wie die Konsumenten von Alltagsprodukten. Wie ‚Zielgruppe' ist auch ‚Inszenierung' eine Vokabel, mit der eine Adressierung an ein Publikum und damit die Sozialisierung von Kunst schon mitgedacht ist.
    Es ist der logische nächste Schritt, dass diese Adressierung nicht länger an den Museumsmauern endet, sondern über diese hinausgeht. Die Zielgruppen sollen bestenfalls überall erreicht werden, wo sie Aufmerksamkeit übrig haben könnten. Das Ausstellen und Vermitteln von Exponaten lässt sich sogar besonders gut betreiben, wenn man diese in fotografisch-digitalisierter Reproduktion noch abwechslungsreicher, überraschender und experimenteller kombinieren und kommentieren kann als am Ausstellungsort selbst.
    Das Internet als Ort der Inszenierung
    Damit wird das Internet zum zunehmend wichtigen Ort der Inszenierung von Kunst; die Vermittlungsarbeit der Museen und Ausstellungshäuser findet hier ihre Fortsetzung und Vollendung.
    Was im Moment noch in den Anfängen steckt und etwa vom Frankfurter Städel im Zuge der Digitalisierung der eigenen Sammlung in einer Beta Version bereits erprobt wird , dürfte innerhalb weniger Jahre die Wahrnehmung der Museen und ihrer Sammlungen markant verändern.
    Welche Neugier wird etwa freigesetzt, wenn man bei einem virtuellen Museumsrundgang einzelne Werke heranzoomen kann, um sie schließlich viel detaillierter zu sehen als vor Ort, wo sie oft hinter Glas sind und man vom Aufsichtspersonal auf Abstand gehalten wird?
    Das seit 2011 stetig wachsende Google Art Project hat hier erste Maßstäbe gesetzt und mit hochauflösenden Reproduktionen zugleich Fantasien geweckt, was noch alles an Aufbereitung möglich sein könnte. Welche zusätzlichen Zugänge zur Kunst ergeben sich etwa durch eine gewissenhafte Verschlagwortung von Werken, die es jedem Interessenten erlaubt, sich einen individuellen Weg durch eine große Sammlung zu bahnen?
    Welche neuen Möglichkeiten der Kunstvermittlung entstehen, wenn sich Museen mit Computerspielentwicklern zusammentun und Kunstwerke auf diese Weise gerade Jugendlichen näher bringen?
    Wie gezielt kann man aber auch ein eher bildungsbürgerliches Publikum ansprechen, das gerne weiterführende Informationen und Hintergrundwissen bekommt und in der Zukunft Filme, digitalisierte Originaldokumente oder wissenschaftliche Interpretationen zu einzelnen Sammlungsstücken abrufen kann?
    Bilder spielen in den Sozialen Medien eine besondere Rolle
    Vor allem aber sind für Kunstmuseen zunehmend auch die Sozialen Medien wichtige Partner. Auf Facebook, erst recht aber auf Tumblr, Instagram und Pinterest spielen Bilder insgesamt eine besonders große Rolle. Da Bilder von Kunstwerken häufig unverwechselbar, ungewöhnlich und einprägsam, oft sogar von vornherein auf Fotogenität hin angelegt sind, wecken sie zudem leichter Interesse als vieles andere inmitten der endlosen Ströme an Bildern. Kunstinstitutionen haben daher gute Voraussetzungen, in Zeiten digitaler Kommunikation - in einer Kultur der Bildschirme und Displays - an Bedeutung zu gewinnen.
    Zum einen können die Institutionen ihre günstige Ausgangslage zur Geltung bringen, wenn sie selbst Bilder in die großen Portale der Sozialen Medien einspeisen. Es lassen sich dabei diverse Anlässe nutzen: ein bestimmtes Thema, ein Jubiläum, ein aktueller Zusammenhang, ein Event in einer Ausstellung. Auf diese Weise schaffen sie vielfältige Bezüge zwischen den Werken und den Interessen verschiedener Zielgruppen.
    Die alte Forderung der Avantgarde, Kunst und Leben sollten sich einander annähern oder gar eins werden, findet so unerwartet - und anders als gedacht - Erfüllung: Das Foto eines Gemäldes, einer Installation oder einer Ausstellungsansicht taucht zwischen den Nachrichten guter Freunde oder unter all den Fotos, Karikaturen und animierten Bildern auf, die auf der eigenen Facebook-Seite eintreffen oder Teile des Fotostreams sind, der sich auf einer Plattform der Sozialen Medien fortwährend konstituiert. Selbst die letzten Nostalgiker, die sich das Museum noch als einen abgeschotteten, efeubewachsenen Elfenbeinturm vorstellen, müssen dann anerkennen, dass es zu einem höchst umtriebigen Ort geworden ist, an dem und von dem ausgehend viel und immer wieder anderes passiert. Es steht nicht mehr für Dauer, Ruhe, Zeitlosigkeit, sondern verbindet Kunst mit vielerlei anderem, wodurch sie in die Lebenswelt unterschiedlicher Menschen und Milieus eingebunden wird.
    New Yorker MoMA hat rund eine Million Follower
    Viele Museen und Ausstellungshäuser wie die Münchner Pinakotheken, die Schirn Kunsthalle in Frankfurt oder die Hamburger Kunsthalle haben mittlerweile eigene Accounts auf Plattformen wie Instagram. Sie werden auch aufmerksam wahrgenommen - Spitzenreiter dürfte der Account des New Yorker MoMA mit rund einer Million Follower sein -, doch ist auch unübersehbar, wie sehr es sich dabei um ‚Neuland' handelt. So gelingt noch keiner der Institutionen ein unverwechselbarer oder gar origineller Auftritt, vielmehr trifft man überall auf eine ähnliche Mischung von Exponatfotos, Vernissagebildern und witzigen Detailaufnahmen.
    Der Eingang zum MoMa - Museum of Modern Art - in New York City.
    Der Eingang zum MoMa - Museum of Modern Art - in New York City. (imago/Levine-Roberts)
    Einerseits soll also mit dem, was man zu zeigen hat, ein bisschen angegeben werden, andererseits geht es darum, Schwellenängste zu nehmen und möglichst locker rüberzukommen. Das ist ziemlich langweilig, könnte sich aber schnell ändern, wenn das Bespielen der Accounts nicht länger eine Sache von Praktikanten ist, sondern man Fotografen mit einem eigenen Bildkonzept dafür verpflichtet.
    Doch letztlich noch wichtiger und folgenreicher für die Wahrnehmung der Museen jenseits ihrer eigenen Räume sind die Fotos (und Videos), die Besucher machen und hochladen. Schon jetzt ist deren Anzahl um ein Vielfaches höher als die der Bilder, welche die Häuser selbst online stellen. In Art und Qualität unterscheiden sich die Fotos der Besucher zwar nicht von denen auf den offiziellen Museumsaccounts, doch sind sie manchmal überraschender oder ambitionierter. Man spürt den Wunsch, die nach wie vor erhabene Atmosphäre eines Museums wiederzugeben; häufig geht es auch um eine Verfremdung oder eine genreartige Momentaufnahme. Besonders beliebt als Motiv sind immer wieder Konstellationen, die sich zwischen Exponaten und Besuchern ergeben: bizarre Gegensätze in der Kleidung oder eine Ähnlichkeit in einem Muster oder einer Geste. Als eigener Hashtag, also als Begriff, unter dem User ihre Bilder verschlagworten, hat sich sogar #musepose etabliert. Unter diesem Kunstwort findet man auf Instagram zahlreiche Fotos von Menschen, die Körperhaltungen einnehmen, welche genau denen von Figuren auf Gemälden oder bei Skulpturen entsprechen.
    Mit dem Hashtag #musepose im Kopf ins Museum
    Ein solcher Hashtag wird zugleich zur Handlungsanleitung, da er viele Menschen überhaupt erst auf die Idee bringt, einen bestimmten Typ von Foto zu machen und sich selbst auf eine spezifische Weise im Ausstellungsraum zu benehmen. Man nimmt dann Bezug auf andere Fotos desselben Typs, die man bereits gesehen hat, will sie übertreffen oder variieren, hat also eine zusätzliche oder ganz andere Motivation im Museumsraum als nur die Rezeption der Kunst und ihrer Inhalte.
    Wer mit dem Hashtag #musepose im Kopf ins Museum geht, wird einerseits genauer und gezielter darauf achten, in welchen Haltungen, Gesten und Mimiken Protagonisten von Kunstwerken dargestellt sind, bemerkt also vielleicht auch, wie viel Handlung und Psychologie damit vonseiten der Künstler in Szene gesetzt wird, lässt sich andererseits aber eventuell dazu hinreißen, nur noch nach Gags zu suchen, um den etablierten Hashtag für die eigenen Follower möglichst witzig zu nutzen. Dann geht es um die Zahl der ‚likes' für das eigene Foto, während das Werk, das es zum Anlass hat, keine nennenswerte Rolle mehr spielt.
    Schon jetzt ist absehbar, dass Hashtags das Verhalten von Museumsbesuchern mehr verändern als sämtliche Praktiken der Museumspädagogik und Kunstvermittlung der letzten Jahrzehnte. Das haben deren Vertreter auch bereits erkannt, weshalb es seit kurzem üblich ist, eigene Aktionen zu starten, die sich um bereits gängige oder neu erfundene Hashtags drehen. So werden Besucher etwa dazu aufgerufen, dem Hashtag #museumofselfies zu folgen und sich oder andere zusammen mit Smartphones so vor Kunstwerken zu fotografieren, dass es aussieht, als würden deren Protagonisten gerade ein Selfie machen. Engel auf einem mittelalterlichen Gemälde oder Franz von Stucks Salomé nutzen also auf einmal vermeintlich modernste Kommunikationstechnik.
    Die Intention hinter einem solchen Projekt ist ebenso klar wie schlicht. Auf der Website der Kunsthalle Bremen heißt es, damit biete man "dem zeitgenössischen Betrachter auch einen neuen Zugang zur Kunst"; immerhin könne er nun bei einem Porträt einer älteren Dame an die eigene Großmutter denken.
    Aus alter Kunst soll also etwas Frisches und Zeitgenössisches werden. "Gleichzeitig" - so liest man weiter auf der Website - "wird deutlich, dass digitale Selfies an die Stelle von altehrwürdigen Selbstporträts treten".
    Spätestens dieser Schluss erscheint allerdings fragwürdig, denn so unterschiedliche Zwecke mit Selbstporträts verfolgt worden sein mochten, so wenig ging es bei ihnen doch jemals um eine Sofort-Kommunikation. Künstler reflektierten vielmehr ihre Rolle in der Gesellschaft, inszenierten ihren Ruhm oder ihre besondere Begabung, klagten an oder stilisierten sich als Genies. Selfies hingegen sind bloße Statusmeldungen; sie signalisieren, wo man gerade ist und was man erlebt, sie zeigen - oft in zugespitzter Art und Weise - den aktuellen Gemütszustand an. Allein dass sie, anders als Kunstwerke der Vergangenheit, im Nu gemacht und verschickt werden können, lässt es unwahrscheinlich sein, dass eine zusätzliche subtile Intention, ja ein allgemeingültiger Anspruch mit ihnen verbunden ist.
    Mit dem Selfie an den Besucher
    Die Aussage auf der Website der Bremer Kunsthalle ist aber insofern repräsentativ, als es in der Kunstvermittlung generell darum geht, motivierend auf die Besucher zu wirken und ihnen zu suggerieren, sie seien selbst auch kreativ und könnten viele tolle Sachen machen. Deshalb muss jedes noch so situativ entstandene Selfie gleich in die lange Tradition großer Selbstporträts eingereiht werden oder umgekehrt jedes Porträt der Kunstgeschichte als Vorform eines Selfies erscheinen.
    Eine Frau macht in der Ausstellung ein Selfie vor einem Bild an einer Wand
    Die Ausstellung "Ego Update" zeigt, wie Künstler mit dem Phänomen "Selfie" umgehen. (dpa/picture alliance/Maja Hitij)
    Tatsächlich ist in der Kunstvermittlung zurzeit kaum etwas so beliebt wie Projekte mit Selfies. Mit nichts anderem gelingt es offenbar einfacher und sicherer, verschiedenen Zielgruppen unter den Besuchern - etwa Jugendlichen und Paaren - das Gefühl zu geben, sie könnten sich im Museum individuell ausleben. Der Hashtag #museumselfie ist international erfolgreich, und bezeichnend für heutige Besucherpolitik ist, was man im Helsinki Art Museum antrifft. Dort liegen Zettel aus, auf denen die Besucher sogar eigens zu Selfies aufgefordert werden, mit der Begründung "Make yourself part of art by taking a #museumselfie". Selfies verheißen also eine Teilhabe an der Kunst, mit ihnen darf sich jeder für einen Moment als Künstler und Porträtist fühlen.
    Hier fällt es schwer, nicht zum Kulturpessimisten zu werden, der beklagt, wie viel Gleichmacherei betrieben wird, nur um noch ein paar Banausen mehr ins Museum zu bekommen und dort oberflächlich zu unterhalten. Aber zum Glück gibt es auch andere Formate, die zumindest die Chance auf interessantere Ergebnisse in sich bergen. Dabei erfolgt die Motivation oft dadurch, dass man Teilnehmern etwas Exklusives verspricht, sie also zu Mitwirkenden bei einem einmaligen Ereignis geadelt werden. Treffen sich in diversen Städten Hobbyfotografen auch sonst gerne für sogenannte Instawalks, also gemeinsame Fototouren, deren Ergebnisse dann bei Instagram hochgeladen werden, so findet dasselbe mittlerweile auch in Museen statt. Man kann sich vorab anmelden, um an einer solchen Fototour teilzunehmen, deren Attraktivität vor allem dadurch steigt, dass sie außerhalb der Öffnungszeiten stattfindet.
    Auf dem Blog der Staatlichen Museen zu Berlin geben die Initiatoren einer Aktion, bei der im Oktober 2015 unter dem Hashtag #emptybodemuseum ein Foto-Event organisiert wurde, dazu folgendes Statement ab: "Es ist schön, dass sich inzwischen auch große Kultureinrichtungen für solche Dinge öffnen. Für die Fotografen wiederum ist es sehr reizvoll, dass sie die Räume, wo sonst die Besucher sind, einmal für sich haben und sie ganz in Ruhe fotografisch entdecken und einfangen können. Die Museen profitieren natürlich auch, weil die Leute auf ihren Accounts teilweise sehr viele Follower haben und so eine große mediale Aufmerksamkeit generiert wird."
    Hier verbinden sich also Kunstvermittlung und Public Relations, und schon bald sind vielleicht willfährige Besucher mit Smartphones und Kameras die wichtigsten Marketing-Dienstleister der Museen. Im Gegenzug bekommen sie von diesen das schöne Gefühl vermittelt, etwas exklusiv Kreatives machen zu dürfen. Sie strengen sich natürlich an, den Ausnahmecharakter der fotografischen Situation auf ihren Bildern zum Ausdruck zu bringen - und stärken damit das Image des Museums als einem auratischen Ort.
    Neben Instawalks gibt es zahlreiche ähnliche Aktionen, von Blogparaden über Bloggerreisen bis zu Tweetups. Bei ihnen allen werden die Strukturen der Sozialen Medien genutzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.
    Und gelegentlich sind dabei sogar Künstler für ein Konzept verantwortlich. So gab es im Frühjahr 2014 begleitend zu einer Ausstellung von David Shrigley in der Pinakothek der Moderne in München ein Event, bei dem 100 Personen eine noch nie gezeigte, in einem geheimen Raum präsentierte Skulptur des Künstlers eine Stunde lange sehen, abzeichnen und beschreiben durften. Gleich danach wurde die Skulptur zerstört; von ihr existieren also keine Fotos, sondern lediglich die innerhalb des Tweetups entstandenen Dokumente, die unter dem Hashtag #shrigpin über Twitter und andere Soziale Medien verbreitet wurden. Shrigley selbst war während der Aktion anwesend, was die Teilnehmer nach eigener Aussage zusätzlich anspornte; er stellte sicher, dass sein Werk nur so wiedergegeben wurde, wie es vor Erfindung der Fotografie - und dem Zwang zu Fotogenität - üblich war.
    Auf der Suche nach neuen Erfahrungen
    Ging es hier nicht zuletzt um die Frage, was von den Sozialen Medien bleibt, wenn man mit Fotografien auf ihren Hauptinhalt verzichtet, so lassen sich viele weitere Aktionen denken, bei denen Medienkritik und Reflexion im Zentrum stehen oder wirklich neue Erfahrungen und Erkenntnisse gesucht werden. Zugleich sind, wie sich zeigt, überzeugendere Varianten einer Partizipation des Publikums an der Kunst möglich als bei von Kunstvermittlern lancierten Museums-Selfies. Auch hier jedoch dient der Umgang mit Kunst nicht mehr primär dem Ziel, den Gehalt von Werken besser zu begreifen; vielmehr geht es darum, sie mit der eigenen Lebenswelt zu verknüpfen, sie im Zuge kommunikativer Akte einzusetzen, sie aufmerksamkeitsträchtig aufzubereiten, sie als Anlass und Legitimation für eigene Bildideen zu verwenden, durch sie das eigene soziale Netzwerk weiter auszubauen. Gerät man schon mit jedem Hashtag in Verbindung zu Usern derselben Plattform, die denselben Hashtag verwenden, so ergeben sich erst recht bei einem Tweetup, einem Instawalk oder einer anderen eigens geplanten Aktion neue Kontakte oder gar engere Zusammenschlüsse.
    Was die Vereine im 19. Jahrhundert waren, sind die Events der Sozialen Medien im 21. Jahrhundert: nach jeweils festen Regeln organisierte, aus einem gemeinsamen Interesse resultierende Zusammenschlüsse von Menschen, die sonst oft nichts oder nicht viel miteinander zu tun haben.
    Innerhalb der Sozialen Medien nehmen Kunstwerke und Museen nur einen bescheidenen Raum ein, die großen Plattformen werden davon nicht spürbar geprägt. Umgekehrt aber setzt sich in den Sozialen Medien in gesteigerter Form fort, was eine zielgruppenorientierte Museumspolitik sowie die Kunstvermittlung vorgemacht haben: Die Kunst wird adressiert und spezifisch aufbereitet, um möglichst viele Anlässe zur Kommunikation zu bieten.
    Paradigmenwechsel wird deutlich
    Vergleicht man, was hier passiert, wiederum mit den Ursprüngen der Idee des Museums, wird einmal mehr ein Paradigmenwechsel sichtbar. So war das Museum der Ort, an dem die Werke rein für sich, losgelöst von allen ökonomischen oder instrumentalisierenden Faktoren wahrgenommen werden sollten. Auf diese Weise sollte es möglich sein, sie als autonome Schöpfungen zu erfahren und damit ihrem spezifischen Charakter gerecht zu werden. Sich ihnen unter Absehung von allem anderen zu widmen, galt als Bedingung dafür, ihre spirituellen oder intellektuellen Gehalte erschließen zu können und ihnen interpretierend gerecht zu werden, war aber auch Ausdruck davon, sie als etwas Überlegenes und Werke von Genies zu akzeptieren, die zu verstehen seinerseits Begabung und Aufwand verlangt.
    Von dem Moment an, in dem Kunstvermittlung begonnen hat, sich Gedanken über Zielgruppen zu machen, hat man die Werke auf diese hin inszeniert und nicht mehr allein aus sich heraus zu verstehen versucht. Mochte Kunstvermittlung zuerst noch vom Anspruch motiviert gewesen sein, die Inhalte der Kunst allgemeiner gegenwärtig zu machen, so führte sie in der Praxis dazu, die Werke bestimmten Zwecken zu unterstellen: Mit ihrer Hilfe sollten Minderheiten integriert, einzelne Zielgruppen sensibilisiert, andere zu eigener Kreativität stimuliert werden. In dem Maße, in dem es gelingen mochte, Kunst auch Menschen näherzubringen, die sich bis dahin kaum dafür interessiert hatten, orientierte man sich also an deren Bedürfnissen, statt noch einer Idee von Kunstautonomie verpflichtet zu sein.
    Dass nun diejenigen, die selbst längst zu Adressaten der Kunstvermittlung geworden sind, Kunstwerke ihrerseits adressieren und so noch weiter vermitteln, führt nicht nur über die physischen Grenzen des Museums hinaus, sondern bedeutet endgültig den Abschied von den für rund zwei Jahrhunderte vorherrschenden Rezeptionspraktiken. Statt sich in die Betrachtung eines Werks zu versenken, wird es als Anregung begriffen, das eigene soziale Netzwerk zu pflegen, vielleicht auch als Herausforderung, ein besonders witziges, originelles, effektstarkes Foto davon zu machen und so Anerkennung bei denen zu finden, denen man es postet.
    Fotos der Besucher haben oft besondere Aussagekraft
    Ein Mann fotografiert am 17.10.2012 im Neuen Museum in Weimar das Werk "o.T.(Ikarus)" von Mark Lammert
    Ein Mann fotografiert am 17.10.2012 im Neuen Museum in Weimar das Werk "o.T.(Ikarus)" von Mark Lammert (picture alliance / dpa / Michael Reichel)
    War früher das Fotografieren in Museumsräumen verboten, weil man darin eine Ruhestörung der konzentrierten Besucher befürchtete, ist es mittlerweile zunehmend erwünscht. Denn so vervielfältigt sich nicht nur die Anzahl an Reproduktionen von Exponaten, was diese noch bekannter werden lässt, sondern vor allem ergeben sich immer wieder neue Spielarten ihrer Inszenierung. Selbst wenn manches misslingen mag, über Plattitüden nicht hinauskommt oder nicht zu dem Image passt, das das Museum selbst gerne von sich verbreitet, stellt es für dieses auf jeden Fall einen Gewinn dar, das Publikum aktiv in das Vermittlungsgeschehen einzubeziehen.
    Endlich wird nachvollziehbar, für welche Werke sich Besucher wirklich interessieren, was sie damit jeweils assoziieren oder zu welchen Anlässen sie Fotos machen. Auf manche Varianten der Wiedergabe und Inszenierung, mit denen die User der Sozialen Medien experimentieren, würde ein berufsmäßiger Kunstvermittler gewiss nie kommen, der so seinerseits, nicht nur wenn es um Hashtags geht, Anregungen für seine Arbeit erhält. Und erst recht lässt sich dank der Fotos der Besucher erkennen, welches Ausstellungsdesign als eye catcher geeignet ist oder mit welchen Formen und Materialien der Innenarchitektur besonders imposante Fotos möglich werden. So werden sich die Museen nach und nach mit Blick auf ihre Fotogenität perfektionieren.
    Das heutige Museum liefert also zunehmend Fotografiervorlagen für eine gerade auch durch Bilder hochgradig vernetzte Welt. Die in ihm gezeigte Kunst wird zu einem Open-Source-Medium der Kommunikation. Sie unterscheidet sich schon allein deshalb nicht mehr wirklich vom Rest der Welt, als die von ihr zirkulierenden Fotos in unmittelbarer Nachbarschaft und Konkurrenz zu Fotos anderer Sujets stehen, die ihrerseits Stoff für sozialen Austausch bieten: Auf einem Fotostream taucht das Foto eines Ausstellungsraums oder eines Museumsexponats direkt neben dem Bild eines schicken Autos, einer Gewitterlandschaft, eines Bodybuilders, einer veganen Pizza, eines Babybauchs oder eines Karnevalkostüms auf. Sehr vieles wirkt dabei gleichermaßen schön in Szene gesetzt und vermag zustimmende Kommentare oder ‚likes' auf sich zu ziehen. Bestenfalls wird ein Foto wiederholt reblogged, also seinerseits an verschiedenen Orten reproduziert und mit entsprechend viel Aufmerksamkeit belohnt.
    Es ist noch nicht absehbar, wie es Wahrnehmung und Status von Kunst verändert, dass sie zu einem Sujet unter vielen wird, mit dem in der Welt des Internet kommuniziert und soziales Kapital erzeugt wird. Klar ist nur, dass sich der Umgang mit ihr grundlegend von allem unterscheidet, was in der Moderne üblich und programmatisch war. So wie das Museum von einem hermetischen Ort des Sammelns zu einem offenen Ort des Inszenierens und Vermittelns geworden ist, spielt auch die Kunst darin eine gänzlich andere Rolle. Sie hat den Menschen vielleicht so viel zu sagen wie noch nie. Aber sie ist vielleicht auch so stark vermittelt, dass sie bis zur Unkenntlichkeit im alltäglichen Leben aufgeht.