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"Komplett an den Wünschen der Eltern vorbei"

Die Grünen-Politikerin Ekin Deligöz hat die Idee einer "Zuhausebleib-Prämie" für Eltern, die keine Kinderbetreuung in Anspruch nehmen, als "bildungspolitische Katastrophe" bezeichnet, die komplett an den Wünschen der Eltern vorbeigehe und kontraproduktiv für die Erwerbstätigkeit von Frauen sei. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Schlüsselfrage der Standortpolitik.

Ekin Deligöz im Gespräch mit Gerd Breker | 30.12.2010
    Gerwald Herter: Ist das nun der Durchbruch oder müssen wir besser vorsichtig bleiben? Fest steht, in Deutschland werden wieder mehr Babys geboren. In den ersten neun Monaten des laufenden Jahres kamen fast 20.000 Kinder mehr auf die Welt als im Vergleichszeitraum 2009, das ist ein Plus von 3,6 Prozent. Einen solch großen Zuwachs hat es im vergangenen Jahrzehnt nie gegeben. Handelt es sich um eine Trendwende? Mein Kollege Gerd Breker hat das Ekin Deligöz gefragt, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag.

    Ekin Deligöz: Ich persönlich wäre mit den Zahlen etwas vorsichtiger. Die Familienministerin von der Leyen hat damals in ihrer Zeit schon mal mit diesen Septemberzahlen den Erfolg angekündigt, um dann am Ende des Jahres festzustellen, dass die Gesamtzahlen doch nicht ganz so gut ausgefallen sind. Von daher, diese Zahlen, die jetzt verkündet sind, gehen erst mal bis September, aber wenn es so wäre, dann wäre das zunächst einmal ein gutes Zeichen und schon auch eine Situationsbeschreibung.

    Gerd Breker: Erstaunlich, so die Statistiker, sei der Anstieg, weil die Zahl der potenziellen Mütter ja jährlich um 300.000 sinke, also irgendwas scheint sich da wirklich zu tun.

    Deligöz: Also in der Tat wäre eine Steigerungsrate pro ... Also es ist nicht so wichtig, wie viel in Absolutzahlen rauskommt, sondern wie viel pro Kind, also wie viele Kinder pro Frau auf die Welt kommen, das ist eine Messlatte. Wenn das ansteigen würde - und wie gesagt, die Septemberzahlen haben uns schon ein paar Mal irregeführt, deshalb muss man jetzt so ein bisschen vorsichtig damit sein -, aber wenn es so wäre, wäre es eine deutliche Entscheidung pro Kind, insbesondere auch von Müttern, von Frauen, und das wäre schon ein Novum in Deutschland.

    Breker: Gelten Kinder also nicht mehr als Armutsrisiko?

    Deligöz: Nun ja, das ist was anderes. Man muss sich überlegen, was möchte man eigentlich in der Politik. Ich denke nicht, dass die Aufgabe der Politik ist, Bevölkerungspolitik zu machen, also dafür zu sorgen, dass noch mehr Menschen mehr Kinder kriegen, sondern unser Auftrag muss sein, dass die Kinder, die auf der Welt sind und in Deutschland aufwachsen, die bestmöglichen Rahmenbedingungen kriegen und die Eltern auch bestmögliche Unterstützung kriegen. Und da sollten die Zahlen zunächst mal keine Rolle spielen, sondern das Aufwachsen jedes einzelnen Kindes. Und dazu gehört eine gute Kinderbetreuung genauso gut wie Armutsbekämpfung. Wir wissen übrigens auch noch nicht, wo diese Kinder auf die Welt kommen, also müsste man sich auch noch mal anschauen, wie viele davon kommen in Migrantenfamilien auf die Welt, wie viele auch in Familien, die von Armut betroffen oder bedroht sind, Alleinerziehende - das alles sind Faktoren und Aufträge an die Politik, etwas zu verändern in dieser Gesellschaft. Bevölkerungspolitik ist nicht Auftrag der Politik.

    Breker: Kann denn, Frau Deligöz, Politik überhaupt die Entscheidung einer Frau für ein Kind beeinflussen?

    Deligöz: Wir wissen aus diversen Studien, unter anderem auch von Allensbach-Studien, dass die Entscheidung pro Kind in der Regel nicht von politischen Angeboten abhängt, sondern von Bedingungen. Dazu gehört ganz oben vorne dran eine stabile Partnerschaft, also der Vater des Kindes, der sich auch zum Kind bekennt, aber auch die soziale Lage, sprich eine gewisse Zuversicht in die Zukunft. Wenn die Arbeitslosigkeit zurückgeht, dann ist auch der Wille zur Familiengründung größer. Das sind zwei Faktoren, die man ernst nehmen muss. Darüber hinaus sind aber die Fragen, also die Sorgen der Familien, die ernst zu nehmen sind, genauso gut offensichtlich. Und ganz oben drauf steht da die Frage der Vereinbarkeit mit Beruf nach wie vor, und das heißt für uns, wir müssen unsere Anstrengungen - Ausbau Kinderbetreuung zum Beispiel gerade für unter Dreijährige, aber auch Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen - noch ein bisschen steigern, da ist noch sehr, sehr viel nachzuholen.

    Breker: Reicht es, wenn die Politik agiert, oder ist nicht eigentlich die gesamte Gesellschaft gefragt? Auch die Wirtschaft müsste kind- und familiengerechter werden.

    Deligöz: Das eine bedingt das andere. Die Politik muss agieren und alle anderen müssen ein Stück weit sich darauf einstellen. Unternehmen, die in die Vereinbarkeitsfrage investieren - zum Beispiel darüber, dass sie sehr früh schon in die Kinderbetreuung, Betriebskindergärten investieren oder in Rückkehrmöglichkeiten, Teilzeitbeschäftigung, Heimarbeitsplätze -, diese Unternehmen haben nicht nur mehr Mütter, sondern auch eine langzeitige Identität und Bindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den Unternehmen. Übrigens auch in Krisenzeiten verlassen gut Qualifizierte diese Unternehmen nicht. Das ist ein Gewinn, zumal wir ja auf einen Facharbeitermangel hinauslaufen und die gut qualifizierten Frauen brauchen, und zwar jedes einzelne Unternehmen. Da ist die Frage der Vereinbarkeit eine Schlüsselfrage der Standortpolitik, aber auch der Unternehmenspolitik. Und noch eins: Also wenn zeitgleich mit dem Betreuungsausbau von der Regierung so etwas kommt wie eine Zuhausebleib-Prämie, also Geld für Eltern, die eine Kinderbetreuung nicht in Anspruch nehmen, dann ist es nicht nur eine bildungspolitische Katastrophe, sondern dann geht das komplett an den Wünschen der Eltern vorbei, ist aber auch kontraproduktiv für die Erwerbstätigkeit von Frauen.

    Breker: Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell hat die heutigen Zahlen so interpretiert, dass er von einer Polarisierung der Familienstrukturen spricht. Ein Drittel der Frauen entscheide sich gegen Kinder, wenn sich aber Familien für Kinder entscheiden, dann für mindestens zwei. Die Ein-Kind-Politik scheint am Ende.

    Deligöz: Das halte ich ehrlich gesagt für sehr früh, um so etwas zu behaupten. Wir wissen, dass die Frauen immer älter werden bei der Erstgeburt, da sind wir schon beim Durchschnittsalter 30. Das hängt mit der sozialen Stabilität zusammen, weil viele Frauen sagen, zunächst einmal eine Beziehung, einen Job, Rahmenbedingungen, um Kinder aufzuziehen, und dann sind sie ganz schnell beim Alter 30 plus. Das ist ein Phänomen, was wir schon seit Längerem beobachten, eine immer älter werdende Elterngeneration. Aber wir sehen gleichzeitig, dass zum Beispiel der Anteil der alleinerziehenden Mütter gleichermaßen zunimmt. Von daher würde ich diese Ein-Kind-Politik ... Nach wie vor ist es so, dass die Geburtsquote unter 1,5 ist, und dann dominieren natürlich auch die Ein-Kind-Familien, sonst käme so eine Quote auch nicht zustande. Von daher halte ich das für sehr gefährlich.

    Breker: Andere sind da weiter, etwa in Frankreich oder in Skandinavien.

    Deligöz: In Frankreich und Skandinavien sind sie uns in einem Punkt sehr viel mehr voraus. Die haben eine Kultur, die die Erwerbstätigkeit der Mütter insbesondere von Anfang an akzeptiert. Also Frankreich mit ihrer Pränataldiskussion beziehungsweise mit der Diskussion, dass die Kinderbetreuung von Anfang an gesichert ganztags vorhanden ist, bis hin zu Skandinavien, die sehr, sehr viel auf die Vereinbarkeitsfrage legt und auch auf eine gute Bildungsstruktur. Der Kernbereich und gleichermaßen wie eine Armutsbekämpfung auch über die Erwerbstätigkeit, das sind zwei Punkte, die wir uns abgucken sollten, aber da ist auch eine Kultur, ich möchte es mal so formulieren: Die Debatte um die Rabenmütter oder wahlweise Heimchen am Herd, die gibt es nur in Deutschland, die gibt es in keinem anderen europäischen Land. Wir sind ganz schnell dabei, Mütter zu verurteilen für ihre Lebensentscheidung. Das sollten wir lassen, das ist überholt, das gehört nicht mehr in unsere Zeit, sondern es sollte uns darum gehen, wie wachsen Kinder in dieser Gesellschaft auf und was können wir dafür tun.