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Komplexe Wechselwirkungen

Medizin. - Die Wirkung niedriger Dosen ionisierender Strahlung ist kaum untersucht und daher heftig umstritten. Die EU-Kommission hat daher das Projekt Melodi angeschoben, eine Forschungsplattform, die sich um diesen bislang nur wenig beachteten Bereich des Strahlenschutzes kümmern soll. Auf dem 2. Melodi-Workshop in Paris legten die beteiligten Forscher jetzt ihre Strategie fest.

Von Suzanne Krause | 21.10.2010
    Um das Risikomanagement zu erleichtern, haben internationale Strahlenschutzkommissionen Grenzwerte für die höchstzulässige Strahlendosis definiert. Sie gingen dabei aus von den Erkenntnissen über die pathologische Wirkung hoher Strahlendosen. Und extrapolierten diese modellhaft für niedrig dosierte Strahlung, unter der Annahme, dass das Gesundheitsrisiko linear ansteigt mit der Erhöhung der Strahlendosis. Andere Experten hingegen gehen davon aus, dass unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes keinerlei gesundheitliche Gefahr bestünde. Während eine dritte Forschergruppe meint, schon kleinste Mengen radioaktiver Strahlung hätten verheerende Folgen. Jahrzehnte führten diese Divergenzen zu wissenschaftlichen Grabenkämpfen, sagt Jacques Repussard. Der Generaldirektor des IRSN, des französischen Instituts für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit, ist frischgebackener Präsident der Melodi-Plattform:

    "Das erste Ergebnis unseres jetzigen Arbeitstreffens ist: den Teilnehmern ist nun bewusst, dass sie einen wissenschaftlichen Konsens finden müssen. Seit unserem ersten Workshop, vor einem Jahr in Stuttgart, hat sich viel getan. Hier in Paris sind die 200 Forscher nun gewillt, rund um eine strategische Forschungsagenda zum Thema Strahlung im Niedrigdosisbereich zusammen zu arbeiten."

    Denn das Thema ist ein hochkomplexes Feld. Mittlerweile ist unter anderem bekannt, dass die Strahlensensibilität von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Und dass manche von ionisierender Strahlung ausgelöste Phänomene linear zur Dosis verlaufen, andere wiederum nicht. Repussard:

    "Unsere Strategie dreht sich um eine Grundidee. Wir wollen alle wissenschaftlichen Enthüllungswerkzeuge nutzen, um den physiologischen Phänomenen nachzuspüren, die von der Interaktion zwischen ionisierender Strahlung und der Zelle, dem Gewebe, den Organen, dem gesamten Körper eines Tieres oder Menschen ausgelöst werden. Das ist ein extrem komplexes Programm, diese Interaktionsphänomene sind sehr kompliziert und zahlreich. Aber glücklicherweise haben wir heute bildgebende Verfahren, die es erlauben, diese Interaktionen sichtbar zu machen. Somit können wir sie analysieren und ihre Rolle bei der Entstehung von Krankheiten verstehen."

    So setzt Melodi konsequent auf interdisziplinäre Forschung und auf die europäische Koordinierung von Projekten, die während der kommenden zwanzig Jahre die gesundheitlichen Folgen von Niedrigstrahlung erhellen sollen. Zum Beispiel mit Tierversuchen. Oder auch mit Kohorten-Studien. Wie dem Projekt, Kinder, die im Röntgenscanner durchleuchtet wurden, langfristig gesundheitlich zu überwachen, um eventuelle schädliche Spätfolgen aufzudecken. Wolfgang Weiss, der beim Bundesamt für Strahlenschutz den Fachbereich Strahlenschutz und Gesundheit leitet, verspricht sich viel von der Wissenschaftsplattform Melodi:

    "Das Herzstück des Ganzen ist die Fragestellung, ob wir als Institution, die dem Schutz der Bevölkerung und am Arbeitsplatz und in der Medizin uns verpflichtet haben, ob wir tatsächlich richtig schützen. Ob wir hinreichend schützen, ob wir zu viel schützen oder zu wenig schützen. Wir müssen da ganz offen sein, denn da, wo wir schützen, verlassen wir uns zwar auf die Wissenschaft, aber auch auf Werte, die dazu geführt habe, Standards, Grenzwerte und Regularien festzulegen."

    Laut neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann Strahlung nicht nur Krebs auslösen, sondern auch Erkrankungen im Bereich Herzkreislauf und Augenlinse.

    "Allerdings beobachten wir diese Dinge nur bei Dosen, die jetzt nicht am Arbeitsplatz und nicht in der Bevölkerung stattfinden. Es gibt aber Hinweise, dass das durchaus auch da stattfinden könnte. Wenn das so ist, dann hätte das Konsequenzen für die Festlegung des Gesamtrisikos. Das wäre um 30 bis 50 Prozent höher als wir jetzt glauben. Und das hätte zur Folge, dass wir zum Schutz dann auch Grenzwerte absenken müssten."

    Was bedeuten würde, dass beispielsweise Radiologen am Arbeitsplatz besser geschützt werden müssten.