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Kompromisslos auf der Bühne und im Leben

Dore Hoyer war die letzte große Vertreterin des Ausdruckstanzes in Deutschland. Mehr als 30 Jahre lang prägte sie als Solistin, Ballettmeisterin und Choreografin die Tanzszene. Doch die Anerkennung, die ihre Kunst verdient hätte, blieb aus. Zu sperrig, zu streng waren ihre Choreografien.

Von Vanessa Loewel | 12.12.2011
    "Ich muss leben! Muss arbeiten!"

    Schrieb Dore Hoyer am 4. Mai 1935 noch im Krankenhaus in ihr Notizbuch. Nur vier Tage zuvor hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen - mit 24 Jahren, aus Trauer um ihren Geliebten Peter Cieslak. Drei Jahre lang hatte die Tänzerin mit dem Komponisten zusammen gelebt und gearbeitet. Im April 1935 fand sie ihn erhängt in der gemeinsamen Wohnung.

    "Es bleibt nur eines noch: das Leben zu bejahen oder ganz zu verschwinden. Es bleibt nur eines: dem Tanz zu dienen!"

    Dore Hoyer wurde am 12. Dezember 1911 in Dresden geboren. Die Stadt war in den 20er- und 30er-Jahren das Zentrum des modernen Tanzes. Die Ausdruckstänzerin Mary Wigmann und deren Schülerin Gret Palucca hatten hier ihre Kompanien. Schon in der Schule entdeckte eine Lehrerin Dore Hoyers Talent und förderte die Maurerstochter. Nach einer Ausbildung zur Gymnastiklehrerin bestand sie an der Schule von Gret Palucca das Tänzerinnen-Examen.

    Danach engagierte sie das Theater in Plauen als Solistin. Doch Dore Hoyer hielt es dort nur eine Spielzeit aus. In Operetten, wie etwa dem Weißen Rössl zu tanzen, empfand sie schon mit 22 Jahren als Verrat am modernen Tanz - und an sich selbst. Sie wurde Mitglied im Ensemble von Mary Wigmann, aber auch das war ihr nur Frondienst. Lieber lebte sie am Existenzminimum und arbeitete an ihren Choreografien.

    Während ihrer gesamten Karriere blieb die herausragende Tänzerin an keinem Theater, bei keiner Kompanie, länger als ein Jahr. Zu kompromisslos war sie in ihrer Kunst, für die sie Armut in Kauf nahm, Einsamkeit und einen zerschundenen Körper. In ihrem Tagebuch schrieb sie:

    "Warum tanze ich? Weil ich mit nichts anderem besser zu gestalten weiß, als gerade mit dem Körper, mit der Bewegung. Bewegung als Mittel, als Material betrachtet, zum Sichtbarmachen einer Idee, eines Geschehens. ... Nicht nur mit dem Verstand - erleben muss man sie - um sie kämpfen. Reinheit um jeden Preis! Auch um den des Missverstandenwerdens."

    Ihre Tänze hatten nichts Liebliches oder Kokettes. Sie war die Abstrakte unter den Ausdruckstänzerinnen. In der Zeit des Nationalsozialismus lehnten die Konzertagenturen ihre strengen, ernsten Stücke ab. Volkstümlich und gefällig sollte der Tanz jetzt sein. Dore Hoyer hielt sich mit Engagements als Solistin über Wasser:

    "Hoch leben Spitze und Stepp. Damit ist die letzte Chance für den heutigen Tanz verloren."

    1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, schien es, als sei ihre Zeit gekommen: Die sowjetische Besatzungsmacht stellte ihr in Dresden das Gebäude der ehemaligen Schule von Mary Wigmann zur Verfügung. Doch Dore Hoyer wollte sich nicht von der SED vereinnahmen lassen und ging 1948 in den Westen. In Hamburg wurde sie als Ballettmeisterin an die Staatsoper geholt. Mit großen Hoffnungen ging sie ihre neue Aufgabe an. Ein modernes Tanztheater wollte sie aus dem Ballettensemble machen. Doch die Strukturen waren zu schwerfällig.

    Desillusioniert gab sie 1951 auf, widmete sich wieder ihren Choreografien, fand aber immer weniger Gelegenheiten, mit ihren Tanzabenden aufzutreten. Den ersehnten Erfolg hatte sie nur in Argentinien. Immer wieder tourte sie in den 50er-Jahren durch Südamerika. Begeistert schrieb sie in einem Brief:

    "Die Presse überschlägt sich vor Bewunderung. Ich bin Tagesgespräch. Wäre es doch auch so in Deutschland."

    In den 60ern gab ihr kaum ein Theater noch eine Bühne. Ihr Ausdruckstanz schien nicht mehr dem Zeitgeschmack zu entsprechen. Dore Hoyer war über 50 und spürte, dass ihr Körper aufgezehrt war. Doch noch einmal wollte sie auf der Bühne stehen. Auf eigene Kosten mietete sie in Berlin das Theater des Westens. Nur hundert Menschen kamen, um sie tanzen zu sehen. Tief enttäuscht zog sie Bilanz:

    "Meinen letzten Solo-Abend gab ich am 18. Dezember 1967 mit einem nun erwiesen restlos verbrauchten Knie. Damit bin ich an das Ende gelangt. Damit fühle ich mich ausgestoßen von der Gemeinschaft als dienendes Glied. Ich kann nicht anders als selbst den Schlussstrich zu ziehen."

    In der Silvesternacht 1967 nahm sich Dore Hoyer das Leben, mit einem Gift aus Südamerika.