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Konfrontation in Buchform

Im Rahmen des Schriftsteller-Austauschprogramms "Westöstlicher Diwan" haben der Libanese Rashid al-Daif und der Deutsche Joachim Helfer zusammen das Buch "Die Verschwulung der Welt" geschrieben. Die Konfrontation zwischen Orient und Okzident konzentriert sich darin auf das Thema Homosexualität.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 03.01.2007
    Die Konfrontation der Blöcke und Ideologien, der großen nationalen Mächte verblasst. Doch dahinter taucht eine neue Konfliktlinie auf, die womöglich schon wesentlich die alten Auseinandersetzungen befeuerte. Innergesellschaftlich kehrt sie wieder, wenn zum Beispiel in den USA evangelikale Sekten enormen Zulauf finden und medial in die Gesellschaft massiv hineinstrahlen. Interkulturell kulminiert sie in Selbstmordattentätern, die ihr Leben ihrer Religion hingeben. Vornehmlich in der europäisch geprägten westlichen Welt hat sich langsam ein Prozess der Individualisierung durchgesetzt, so dass das Individuum nicht mehr einem übergreifenden, zumeist religiös überlieferten Moralsystem gehorcht. Joachim Helfer sieht darin durchaus eine wesentliche Perspektive seines Buches, das er zusammen mit Rashid al-Daif geschrieben hat:

    "Die Individualität ist ja im Westen in den letzten 1000 Jahren sehr mühsam erkämpft worden gegen furchtbare Widerstände und mit furchtbaren Opfern. Ich glaube, die eigentliche Konfliktlinie ist die zwischen einer Gesellschaft, die den Menschen als Individuum denkt, der eigenverantwortlich handelt einerseits, und einer Gesellschaft, die über Fragen der Moral mit Zweidrittelmehrheit abstimmt."

    Den höchsten Ausdruck dieses Anspruchs auf Selbstverwirklichung und zugleich den Ort der harten Konfrontationen verkörpern die Homosexuellen, wenn sie seit einigen Jahrzehnten primär in den Metropolen der westlichen Welt öffentlich auftreten, Straßenfeste feiern und die letzten institutionellen Bastionen der traditionellen Familie angreifen: Schlagwort Homoehe und Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Homosexuelle verstecken sich nicht mehr, sondern erheben ihre Stimme - zum Schrecken von Traditionalisten jeglicher Couleur

    Diese Konfrontationslinie deckt sich längst nicht mehr mit dem politischen Links-Rechts-Schema oder dem Konflikt der Kulturen, wiewohl die Homosexualität dort zweifellos zu den provozierendsten Themen zählt. Rashid al-Daif, der ein kurzes Intermezzo im Leben des Joachim Helfer beinahe in einen Roman transferiert hat, um sich dabei auf die Fahne zu schreiben, diesen auf den Weg der Tugend zumindest ein ganzes Stück weit zurückgeführt zu haben, zählt zur libanesischen Linken und orientiert sich zweifellos an Europa. Joachim Helfer bemerkt:

    "Rashid al-Daif ist ein arabischer Christ. Ich glaube, das ist einer der wichtigsten Aspekte dieses Buches, dass ein arabischer Christ Dinge schreibt, die bei uns in Europa manchmal so klingen, als würde ein gemäßigter Islamist sprechen, kein Fanatiker, aber doch jemand der bestimmte Vorstellungen des politischen Islam jedenfalls nicht völlig ablehnt, obwohl er das politisch absolut tut. Er ist weit entfernt in irgendeiner Weise Islamist zu sein."

    Rashid al-Daif gibt freimütig zu, dass er große Sorge hatte, sein Sohn könne homosexuell werden. Er freut sich, als der 17-Jährige in Beirut ein Mädchen mit nach Hause bringt, mit ihr auf sein Zimmer geht und die Türe absperrt - ein unglaubwürdige Geschichte für den Libanon. Oder er hat Angst, dass sein interkultureller literarischer Partner Joachim Helfer ihn verführen könnte beziehungsweise dass diesen al-Daifs starke Behaarung seiner Hand etwa sexuell affiziert. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll, dass Joachim Helfer seit 20 Jahren mit einem Mann zusammenlebt.

    Er hält Homosexualität nicht nur für unnatürlich. Vielmehr macht er sie auch wesentlich dafür mitverantwortlich, dass die westlichen Gesellschaften ein demografisches Problem haben, weil zu wenige Kinder auf die Welt kommen, so dass ihr Aussterben droht. Homosexualität erscheint für Rashid al-Daif folglich offensichtlich wider die Vernunft gerichtet. Wiewohl Joachim Helfer die individuelle Freiheit verteidigt, so ganz vermag er sich diesem Argument denn doch nicht zu entziehen:

    "Was ich sehe, ist eher eine Krise der Verantwortung. Ich sehe eher, dass wir verstärkt auch in unseren Bildungsanstrengungen den Einzelnen in die Lage versetzen müssen, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Raschid kritisiert ja, unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ausstirbt und offensichtlich tut sie das. Das ist ja gar nicht von der Hand zu weisen. Die 'Bild'-Zeitung schrieb neulich, wir sind ein Volk von Egoisten geworden aufgrund der neuen Demografiestudie. Faktisch ist es tatsächlich so, dass diese Gesellschaft ein Problem damit hat, notwendige Verantwortung zu formulieren und in die Praxis zu überführen. Und insofern finde ich Raschids Kritik an uns, auch wenn sie einiges schief sieht und ungerecht sieht und uns ein bisschen auf die Freiheit reduziert, nicht völlig uninteressant."

    Sollen die Menschen also zum Kinderkriegen verpflichtet werden? Nein, das will Joachim Helfer natürlich nicht. Aber was dann?

    Joachim Helfer diagnostiziert hinter al-Daifs Abneigung gegenüber den Homosexuellen letztlich eine patriarchalische Haltung. Schwule spielen im Sexualakt nicht nur Frauen. Sie verkörpern auch deren Schwäche. Frauen sind eben anders als Männer. Als al-Daif in die gemeinsame Wohnung von Joachim Helfer und seinem Freund eingeladen wird, gruselt ihn trotzdem. Es muss dort nämlich chaotisch und schmutzig sein. Als so richtige Frauen erscheinen ihm schwule Männer denn doch nicht. Und für Ordnung und Sauberkeit können nur Frauen sorgen - eine These, die ich heute höchstens noch von meinem 80-jährigen Vater höre.

    Aber sowenig wie Rashid al-Daif die Homosexualität anerkennen kann, sowenig vermag er die individuelle Emanzipation der arabischen Frau zu tolerieren. Bezeichnend ist, dass er dieses Problem im jetzigen Status quo im Grunde für gelöst hält. Denn im anderen Fall droht schließlich die Gebärverweigerung der Frau, die ihre Rolle als Mutter nicht mehr als ihre primäre Aufgabe anerkennen wird, will sie erst mal sich selbst verwirklichen, ihre Sexualität genauso frei leben wie sich beruflich entfalten. Just hier taucht wieder die Konfliktlinie zwischen einer gemeinschaftsorientierten Moral und dem Individualismus auf. Helfer bemerkt:

    "Was Raschid gar nicht auffällt ist, wie stark manche Bereiche der Öffentlichkeit von Männern beherrscht werden, also beispielsweise, in seinem Stammcafé, das Café de Paris, das ist das ehrwürdige Intellektuellencafé des Landes, sind eben nur Männer und auf unseren Veranstaltungen in einigen Universitäten des Landes und an anderen Orten hat eben nur ein einziges Mal eine Frau das Wort ergriffen und ansonsten 60 oder 70 Männer, und diese eine Frau hat dann auch eine ganz spezifische Frage zur Ermutigung von arabisch weiblichen Emanzipationsbestrebungen durch den Westen gestellt."

    In diesem spannenden Dialog, bei dem beide Autoren durchaus hart zur Sache gehen, führt der eine die homosexuelle Lebensform des anderen nicht nur als absurd vor. Rashid al-Daif versucht Joachim Helfer auch von seinem unvernünftigen Weg abzubringen, und Helfer hat überraschenderweise nicht nur Schwierigkeiten seine Lebensform zu verteidigen. Das liegt vor allem an einer mangelnden Konsequenz seiner Positionen, mit denen er eher an die gesellschaftliche Mitte anschließen möchte, als eine grundsätzliche Gesellschafts- und Institutionenkritik zu entwickeln. Warum wollen Homosexuelle unbedingt heiraten anstatt froh zu sein, dies nicht zu müssen?

    Vor allem, warum wollen sie auch noch Kinder kriegen, bleibt ihnen dieses Risiko doch normalerweise erspart? Hier entfaltet das Buch eine unglaubliche Dynamik. Rashid al-Daif versucht Helfer in Beirut nämlich mit einer Frau zusammenzubringen. Er überlegt sich gut, wie eine Frau aussehen muss, die für einen Schwulen attraktiv sein könnte, nämlich möglichst männlich mit wenig Brust- und Poumfang. Eher zufällig begegnet Helfer in Beirut schließlich sogar einer Deutschen, die laut al-Daif solchen Kriterien genügt und geht mit ihr ziemlich schnell mit dem einen Wunsch ins Bett, nämlich Vater zu werden - ein Unterfangen, das wohl zumindest im zweiten Anlauf klappt.

    "Ich habe nicht aus ideologischen, politischen oder anderen Gründen ein Kind in die Welt gesetzt, sondern weil ich das tiefe innere Bedürfnis hatte Vater zu werden und weil ich - mein Text kann ja auch gelesen werden als eine kritische Bestandsaufnahme des bisherigen Emanzipationsweges der Homosexuellen -, und weil ich den erreichten Zustand, dass wir eine anerkannte ethnische Minderheit der Schwulen und Lesben haben, die ihr anerkanntes und unangetastetes gesellschaftliches Getto bewohnen darf für oder gegen dass man sich um es mal etwas überspitzt zu formulieren, dass man sich mit 18 entscheiden muss, also diese weitere Segmentierung der Gesellschaft auch nicht für das Erstrebenswerteste halte. Dieses homosexuelle Getto ist als Schutzraum eine wichtige Zwischenetappe. Eine emanzipierte Gesellschaft würde aber ohne ein solches Getto auskommen und würde sich über die Frage. ob jemand eine Frau oder ein Mann im Augenblick liebt, ob jemand ein Kind hat oder kein Kind hat oder mehrere Kinder hat, nicht in solchen Kategorisierungen den Kopf zerbrechen."

    Joachim Helfer träumt am Ende des Buches davon, dass er seine homosexuelle Partnerschaft aufrecht erhält, um trotzdem als Vater vielleicht sogar eine bessere Rolle zu spielen, als jene Männer, die Kindererziehung mit ihrer Liebesbeziehung belasten. Dagegen träumt Rashid al-Daif davon, dass Helfer seinen Lebensgefährten irgendwann verlassen wird und zu der Mutter seines Kindes zieht. Wie heißt doch der libanesische Titel seines Essays über Helfer: "Wie der Deutsche zur Vernunft kam." Was für ein Happy End.