Donnerstag, 28. März 2024

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Kongress zum 100. Geburtstag von George Mosse
Wie die Kulturwissenschaft europäischen Faschismus erklärt

Anlässlich des 100. Geburtstags des Kulturhistorikers George L. Mosse haben sich in Berlin deutsche, israelische und US-Wissenschaftler getroffen, um seinen Einfluss auf die europäische, jüdische und Geschlechtergeschichte zu analysieren. Eine Frage dabei: Wie konnte es zum Faschismus in Europa kommen?

Von Andreas Beckmann | 13.06.2019
Ein Standbild aus dem Film "Kleine Germanen": Die Comic-Figur des Mädchen Elsa salutiert. Sie hat dabei eine SS-Uniform an.
Bildung und Schule wurden im Nationalsozialismus zu Instrumenten faschistischer Herrschaft (Little Dream Entertainment)
Die Katastrophe des jüdischen Volkes war das zentrale Thema im Leben George Mosses. Er ging es allerdings ganz anders an als die meisten seiner Kollegen, betont Raphael Gross, Direktor des Deutschen Historischen Museums:
"George Mosse ist kein Holocaust-Forscher, er hat nie zum Holocaust geforscht. Er hat interessanterweise das nicht getan. Er hat über europäischen Faschismus gearbeitet, er hat Rassismus untersucht zurück vom 18. Jahrhundert an, er hat Fragen gestellt zum Verhältnis von Sexualität und Nationalismus, Männlichkeitsvorstellungen, Bürgerlichkeit, und gehörte zu denjenigen, die als Kulturhistoriker mit den größten Einfluss im 20. Jahrhundert hatten."
Kulturgeschichte stand bei Mosse im Mittelpunkt, weil ihn weniger interessierte, wie die Vernichtung bewerkstelligt wurde. Ihn beschäftige die Frage, warum eine so menschenverachtende Bewegung wie die Nationalsozialisten hatte an die Macht kommen können. Und dann auch noch ausgerechnet in Deutschland, wo Emanzipation und Integration der Juden doch nach dem Ersten Weltkrieg längst geglückt zu sein schienen. Und zwar über Bildung:
"Bildung ist ein Begriff, der aus seiner Sicht für die deutschen Juden, die Deutsche sein wollten, so etwas wie ein Eintrittsbillet ins Deutschsein ermöglichte, ich kann auch sagen, Gleichsein ermöglichte."
Mosses eigene Familie, seit dem 19. Jahrhundert angesehener Teil des deutschen Bildungsbürgertums, wirkte in dieser Hinsicht geradezu exemplarisch. Umso größer war für ihn der Schock, als er 1933 als 14-Jähriger mit seinen Eltern fliehen musste. Im Nachhinein analysierte er, dass der Weg über die Bildung in eine Sackgasse geführt hatte:
"Die deutschen Juden hatten keine Unterklasse, keine Bauern, keine Arbeiter, sie hatten keine Beziehung zu den unteren Klassen. Dadurch kamen sie natürlich immer mehr in die Isolation."
Faschismus erfolgreich quer durch Europa
Die Weimarer Gesellschaft war so tief in verschiedene Milieus gespalten, dass die gebildeten Schichten kaum mitbekamen, wie von Ressentiments geleitete Parteien wie die NSDAP zu Hoffnungsträgern für Massen werden konnten:
"Dieser Massenpolitik gehörte die Zukunft. Und sie haben es nie, nie, nie verstanden, was wirklich los war. Und sie waren nicht die einzigen, viele Deutsche haben es auch nicht verstanden. Aber für die Juden war das eine tödliche Sache."
Die Judenvernichtung blieb eine deutsche Besonderheit. Aber mit ihrem Ansatz, Menschen mit Hilfe völkischer Parolen ein Gefühl von Gemeinschaft zu vermitteln, waren in den 30er-Jahren Faschisten quer durch Europa erfolgreich. Die Ursache dafür sah Mosse in einem alltäglichen Rassismus, der sich auf dem Kontinent seit dem Kolonialismus ausgebreitet hatte, berichtet Steven Aschheim, Historiker an Hebrew University of Jerusalem:
"Letztendlich waren Faschismus und Nationalsozialismus für Mosse Produkte einer politischen Moderne, in der bestimmte Menschen, vor allem weiße, christliche Männer zum Idealbild erhoben und andere wie Juden oder Frauen abgewertet wurden."
Als Liberaler war Mosse überzeugt, dass alle Menschen gleich sind. Doch er erkannte als Schwäche des Liberalismus, dass er dieses Ziel zwar argumentativ postulieren, aber nicht praktisch verwirklichen konnte.
Bildung als Ideologie-Instrument
Der Faschismus knüpfte mit seiner Herrenmenschenideologie an dem Umstand an, dass im Alltag Ungleichheit und Vorurteile fortlebten. Beides vertiefte er noch weiter, nachdem er an die Macht gekommen war, betont der Sozialphilosoph Robert Zwarg vom Literaturarchiv Marbach:
"Der Nationalsozialismus beruht darauf, dass noch die kleinste Dinge von der Kindheit bis ins hohe Alter von der politischen Ideologie unterworfen werden. Alles, was man tut, welche Musik man hört, welche Kleidung man trägt, wird eingepasst in die nationalsozialistische Ideologie. Und der Nationalsozialismus hat es verstanden, den Menschen eine bestimmte Form von Harmlosigkeit anzubieten auch als Ablenkung von der Barbarei, also das Kraft-durch-Freude-Programm oder auch scheinbar ganz unpolitische Filmproduktionen und insofern kann man sagen, und das ist eine der Pointen von George Mosse, es gab da keinen harmlosen Alltag."
So wurden selbst Bildung und Schule Instrumente faschistischer Herrschaft:
"Da wurde immer gesagt, dass es nicht darum ging, den Kindern Wissen beizubringen, man möchte sie nicht zu Gelehrten machen, also ein anti-intellektuelles Moment, sondern es geht um Charakter. Und der Charakter wiederum hat mit dem Körper zu tun und daher kommt dann so eine spezifische Aufladung des Sports beispielsweise."
Untersuchung und eigene Betroffenheit
Ideale Körper waren die von wehrhaften, heterosexuellen Männern. Als Pendant dazu propagierten die Faschisten die gebärfähige und -willige Frau. Diese Geschlechterstereotypen hatten sie natürlich nicht erfunden. Aber indem sie an so alte Vorstellungen anknüpften, konnten sie behaupten, eine angeblich natürliche Ordnung wieder herzustellen. Für Mosse war in dieser Ordnung in doppelter Hinsicht kein Platz, denn er war Jude und Homosexueller, erzählt Stephen Aschheim:
"Vielleicht lag es daran, dass er in mehrfacher Hinsicht Außenseiter war, auf jeden Fall wurde George Mosse zum wichtigsten zeitgenössischen Historiker was die Untersuchung von Integrations- und Ausschlussmechanismen angeht."
George Mosse trieb stets die Frage um, ob Mechanismen des Ausschlusses in demokratischen Gesellschaften noch einmal soweit auf die Spitze getrieben werden könnten, dass ein neuer Faschismus möglich würde. Und er neigte dazu, diese Möglichkeit nicht auszuschließen. Die Konstanzer Philosophin Aleida Assmann, die im vergangenen Jahr gemeinsam mit ihrem Mann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, fürchtet, dass aktuelle Entwicklungen in Europa ihn bestätigen könnten:
"Wir sind in einer polarisierten Situation in Europa, es gibt wieder neue Exklusionsmechanismen, es gibt eine Schärfe des Hasses und der Entzweiung und in dieser Situation ist es ganz wichtig, Mosse wieder zu lesen, weil er Modelle anbietet für Inklusion und vor allem für eine diverse Gesellschaft."
Nation als solidarische Gesellschaft
Das wichtigste Modell, das Assmann bei Mosse findet, ist ausgerechnet die Nation, auf die sich ja auch die neuen rechten Bewegungen berufen. Aber Mosse hat einen ganz anderen Nationenbegriff als sie. Für ihn ist die Nation keine völkische Gemeinschaft, sondern eine solidarische Gesellschaft, die sich an den Werten der französischen Revolution orientiert, Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit. Und die alle mit einschließt, die auf dem Gebiet des jeweiligen Staates leben, egal woher und wann sie gekommen sind:
"Er ist dafür, nicht abschaffen, wir brauchen die Nationen noch, und ich würde auch sagen, weil sie eine riesige Integrationsmaschine sind. Wir können die vielen Leute, die von außen nach Europa kommen, gar nicht integrieren ohne die Nationen. Wir können auch nicht die kulturelle Vielfalt erhalten ohne die Nationen, aber wir müssen auch sicher stellen, und da kommt Mosse rein, dass diese Nationen zivilisiert werden. Nationen, die sich auf einen Kult der Stärke und des Krieges gestützt haben, die können wir nicht mehr gebrauchen."
Die kriegerische Nation formiert sich als geschlossene Einheit gegen vermeintliche äußere Bedrohungen. Mosses solidarische Nation lässt dagegen innere Vielfalt und Weltoffenheit nicht nur zu, sondern schätzt sie als Bereicherung. Diesen Nationenbegriff müsse man heute gegen die Rechtspopulisten verteidigen, fordert Aleida Assmann:
"Wir müssen jede Gesellschaft immer von dem Außenseiter, der er selber war, denken und aus seiner oder ihrer Perspektive die Gesellschaft beurteilen. Es ist die radikale Perspektive der Menschenrechte, die er da vertritt, und er sagt, es ist der Test einer demokratischen Gesellschaft, einer solidarischen Gesellschaft, wie sie mit dem Außenseiter umgeht."
Diesen Test muss eine moderne Gesellschaft in zweifacher Hinsicht bestehen. Zum einen müssen die Menschenrechte in Verfassung und Gesetzen garantiert werden. Zum anderen müssen sie im Alltag gelebt und verteidigt werden, damit die Demokratie nicht wie in Weimarer Zeiten von innen ausgehöhlt wird. Denn auch in demokratischen Gesellschaften gibt es keinen unpolitischen, harmlosen Alltag, betont Robert Zwarg. Ignoranz gegenüber sozialer Ungleichheit oder Fremdenfeindlichkeit gefährde den Zusammenhalt:
"Es gibt einen Satz von Walter Benjamin, sinngemäß: Die Katastrophe ist, dass es so weitergeht. Und natürlich stimmt das nicht nur für die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch für die Gegenwart. Die Tatsache, dass das Leben weitergeht während gleichzeitig allerorten das, was man Fortschritt nennt, Opfer fordert und Leute in den Ruin treibt und in den Tod, das würde jetzt dagegen sprechen, von einem harmlosen Alltag zu sprechen."
Die Katastrophe wird sich dann nicht wiederholen, wenn die Demokraten in Europa politisch und im Alltag diesmal zusammenstehen gegen jene, die Minderheiten diskriminieren oder ausgrenzen wollen. In dieser Erkenntnis liegt für moderne Gesellschaften die Aktualität von George Mosses Werk.