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Kontinuität und Kurskorrekturen

Vor seiner Amtseinführung wurde Barack Obama fast wie ein Heiliger verehrt. Millionen von Menschen setzten all ihre Hoffnung auf den neuen US-Präsidenten. Kaum im Amt legte Obama ein zügiges Tempo vor: Guantanamo Bay soll binnen eines Jahres geschlossen, die Finanzmärkte besser kontrolliert werden. Jetzt ist der erste afroamerikanische US-Präsident 100 Tage im Amt - Zeit für eine Bilanz.

Von Klaus Jürgen Haller | 28.04.2009
    Millionen jubelten als Barack Obama vereidigt wurde, am 20.Januar, mittags um 12.00 amerikanischer Ostküstenzeit. Und alle Welt wunderte sich, dass ausgerechnet der Chefrichter am Obersten Gericht der Vereinigten Staaten sich in der Eidesformel verhedderte, mit der Amerikas Präsidenten seit 1789 ihr Amt antreten.

    Obama: "I, Barack Hussein Obama do solemnly swear."

    Chiefjustice Roberts: "That I will execute the office of President to the United States faithfully."

    Obama: "That I will execute ..."

    Chiefjustice Roberts: "... faithfully the office of President of the United States."
    Vor Zeiten hätte man das für einen bedenklichen Auftakt, für ein böses Omen gehalten. Um allen denkbaren verfassungsrechtlichen Einwänden zuvorzukommen, wurde Präsident Obama ein zweites Mal vereidigt; in aller Stille und unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

    Obamas nächster Tag, der 21. Januar, begann mit einem ökumenischen Gebetsgottesdienst in der Kathedrale von Washington. Der Dekan schien den richtigen Ton getroffen zu haben, denn die Heiterkeit der Zuhörer war unüberhörbar. "Nun macht sich die Administration an die Arbeit. Es ist ihr erster voller Tag im Job. Der bestmögliche Anfang, den wir uns vorstellen können, ist mit ihnen - und für sie - zu beten."

    "Wir haben ihnen eine Menge aufgetragen." Und ob! Der fortdauernde Krieg im Irak, die sich verschärfenden Kämpfe in Afghanistan und obendrein eine ausgewachsene Wirtschaftskrise. Wenig später, im Oval Office des Weißen Hauses, begann, wenn man so will, der Ernst des Lebens.

    Obama: "Mit dem heutigen Tag unterliegen Lobbyisten strengeren Beschränkungen als unter jeder anderen Administration der Geschichte."
    So ist das, wenn ein neuer Anfang gemacht wird: Alles soll besser, offener und ehrlicher werden. Erfahrene Journalisten raten zum Abwarten; auch George W. Bush hatte von Bescheidenheit und Zurückhaltung in der Außenpolitik gesprochen. Andererseits könnte es das Geheimnis dieser über 200 Jahre alten Demokratie sein, dass sie nach vier, spätesten nach acht Jahren mit einem neuen Präsidenten einen neuen Anlauf nehmen, alte Scharten auswetzen und neue Ziele ansteuern kann. Außerdem dürfte man so am ehesten mit dem Zynismus der Politik und den Politikern gegenüber fertig zu werden.

    Eric Holder, Obamas Justizminister, hatte schon im Anhörungsverfahren die verschärften Verhöre mutmaßlicher Terroristen in geheimen Gefängnissen, insbesondere das simulierte Ertrinken, als Folter bezeichnet. Ohne Wenn und ohne Aber, und das wirkte wie ein Befreiungsschlag. Präsident Obama verbot diese Praktiken und kündigte an, das Terroristengefängnis in Guantanamo Bay auf Kuba innerhalb eines Jahres zu schließen. Warum nicht sofort? Warum befahl er nicht den sofortigen Abzug der amerikanischen Verbände aus dem Irak? Was unterscheidet Ihre Administration in diesem Punkt denn von der Ihres Vorgängers, wurde Barack Obama von türkischen Studenten in Istanbul gefragt.

    Obama: "Ich war gegen den Krieg. Ich hielt ihn für eine schlechte Idee. Aber da wir nun da sind, ist es meine Verantwortung sicherzustellen, dass wir den Abzug so sorgfältig gestalten, dass nicht alles in Gewalt versinkt."
    Einen Staat zu bewegen, erläuterte er seinen Zuhörern, sei ein mühsames Geschäft.

    Obama: "Staaten sind wie große Tanker, nicht wie Rennboote; Du kannst sie nicht auf der Stelle in eine neue Richtung zwingen; Du musst ihn langsam bewegen, und schließlich gelangst Du wo anders hin."
    Alles braucht seine Zeit, vor allem in der Politik der Vereinigten Staaten. Da hat die Umweltschutzbehörde EPA in diesen Tagen nun endlich entschieden, jawohl, das Kohlendioxyd und weitere Treibhausgase bedrohen die Gesundheit der Bevölkerung. Obamas Vorgänger Bush hatte angeordnet, dass sich die EPA um das Kohlendioxyd gar nicht erst kümmere. Dagegen hatte der Bundesstaat Massachusetts geklagt, und der Oberste Gerichtshof hatte entschieden, die EPA ist sehr wohl zuständig. Das war vor zwei Jahren. Nun vergehen weitere Monate mit öffentlichen Stellungnahmen. Und dann muss sich der Kongress entscheiden, ob er den Kohlendioxydausstoß der Kohlekraftwerke und der Kraftfahrzeuge gesetzlich reduzieren will. In Zeiten der Rezession kommt das nicht sehr gelegen. Sollte die Obama-Administration beabsichtigen, einem internationalen Abkommen zur Abwehr der globalen Erwärmung beizutreten, bedürfte ein solcher Vertrag - wie jeder andere - der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit im Senat, um in Kraft zu treten.

    Ein Präsident kann vieles in Gang setzen; aber die Mittel bewilligt der Kongress, und Verträge ratifiziert der Senat. Oder auch nicht. Präsident Clinton hatte das berühmte Kyoto-Protokoll zur Luftreinhaltung ja unterzeichnen lassen; aber der Senat hatte einstimmig - 95 : 0 - von der Unterzeichnung abgeraten, solange nicht auch China und Indien vergleichbare Auflagen gemacht würden. An eine Ratifizierung mit Zweidrittelmehrheit war unter diesen Umständen nicht zu denken.

    Obamas größtes Vorhaben, eine umfassende Reform des Gesundheitswesens, hat er noch gar nicht in Angriff genommen. Präsident Clinton hatte Ähnliches versucht und war gescheitert. Bis Ende 2011 müssen die amerikanischen Verbände aus dem Irak abgezogen sein; Obama hofft, es schon im Spätsommer 2010 zu schaffen. Er habe sich vor einem Jahr nicht vorstellen können, sagte er kürzlich, dass der Irak nur noch ein minderes Problem darstelle. Die Wirtschaftskrise hat alles andere buchstäblich in den Schatten gestellt.

    Obama: "Keine Frage, dass die Zeiten noch hart sind; wir sind noch keinesfalls über den Berg. Aber zum ersten Mal beginnen wir, Hoffnungsschimmer zu sehen."
    Die wichtigste Aufgabe des Präsidenten besteht gegenwärtig darin, Zuversicht zu verbreiten. "Ich möchte, dass jeder Amerikaner weiß", erklärte Obama vor beiden Häusern des Kongresses, "wir bauen wieder auf, wir kommen über den Berg; die Vereinigten Staaten werden stärker sein als zuvor."

    700 Milliarden für die Rettung des Kreditgewerbes, 570 Milliarden für die Stabilisierung des Immobilienmarktes, 787 Milliarden, um die Konjunktur anzukurbeln. Und plötzlich redet man - dem alten Kalauer zufolge - über richtig viel Geld. Die Federal Reserve, die Notenbank, will weitere 1,2 Billionen Dollar in die Wirtschaft pumpen. Der Bundesetat 2010 - das Haushaltsjahr beginnt am 1. Oktober - hat ein Volumen von 3,5 Billionen Dollar, bei einer Neuverschuldung von 1,2 Billionen!

    Obama: "Wegen des massiven Defizits, das wir erbten, und der Kosten der Finanzkrise, durchforsten wir die Bücher Zeile für Zeile, Seite für Seite, so dass wir unser Defizit zum Ende meiner ersten Amtszeit halbieren und in zehn Jahren um 2 Billionen reduzieren können."
    Abwarten, kann man da wieder nur sagen, denn die Wachstumsraten, die diesen Schuldenabbau ermöglichten, stehen vorerst noch in den Sternen. Ben Bernanke, der Chef der Federal Reserve, spricht auch nicht vom Licht am Ende des Tunnels, sondern von "vorläufigen Indizien, dass der rasante Abschwung der Wirtschaft sich verlangsamen könne".

    Aber eines sei sicher, ohne die Stabilisierung des Finanzsystems und der Kreditmärkte werde es keinen tragfähigen Wideraufschwung geben. Bei all dem macht der Nichtökonom Obama einen erstaunlich sattelfesten Eindruck. Ihm half, dass ihm ein überzeugendes Team von Wirtschafts- und Finanzfachleuten zur Seite steht und dass er komplizierte Sachverhalte für jedermann verständlich zu erläutern weiß.

    Obama: "Wenn jede Familie in Amerika und jedes Unternehmen gleichzeitig sparen, gibt niemand mehr Geld aus. Das bedeutet, es gibt keine Kunden; das bedeutet noch mehr Entlassungen, die Lage der Wirtschaft verschlimmert sich. Deshalb muss die Regierung einspringen und vorübergehend die Ausgaben erhöhen, um die Nachfrage anzukurbeln. Genau das machen wir."
    Geht es gut, ist Präsident Obama fein heraus. Wenn nicht, schaffen die Republikaner den Wiederaufstieg aus der Versenkung. Sie plädieren für Steuersenkungen und Ausgabenkürzungen, den Verteidigungsetat ausgenommen. Der gigantische Schuldenberg bereitet nicht nur Republikanern Sorgen; aber sie reden darüber. John Boehner aus Ohio, der Obmann der republikanischen Minderheit im Repräsentantenhaus:

    "200 Millionen, um die Mall in Ordnung zu bringen, 21 Millionen für den Rasen, über 200 Millionen für Empfängnisverhütung, wie soll das der notleidenden Wirtschaft helfen?"
    Obama muss diese Wirtschaft wieder in Gang bringen; gleichzeitig will er sie in eine andere Richtung steuern. Wir wissen seit Jahrzehnten, sagt er, dass wir von neuen Energiequellen abhängen; aber wir verbrauchen mehr Öl als jemals zuvor. Die Gesundheitskosten fressen unsere Ersparnisse auf. Es gibt einen globalen Wettbewerb um Arbeitsplätze, aber viele Schulen bereiten unsere Kinder darauf nicht vor.
    Im letzten Quartal 2008 sank das Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten, aufs Jahr hochgerechnet, um 6,3 Prozent. Seit Anfang des Vorjahres gingen in Amerika 5,1 Millionen Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosenquote, derzeit bei 8,6 Prozent, steigt. Die Rezession trifft das produzierende Gewerbe, den Bausektor, das Finanzwesen, den Einzelhandel; nur das Bildungs- und das Gesundheitswesen kommen besser davon.
    Nach den ersten 100 Tagen kann man noch nicht einmal sagen, ob die mobilisierten Billionen die gewünschte Wirkung haben. Aber auch in den Vereinigten Staaten wird der Staat nun plötzlich wieder als gesellschaftlicher Reparaturbetrieb akzeptiert. Keine Rede mehr von Reagans Formel, dass der Staat das Problem und nicht die Lösung sei.

    Präsident Obama setzt Privatunternehmen wie General Motors und Chrysler eine Frist zur Unternehmensumstrukturierung, bevor er über den Einsatz von Steuergeldern zu ihrer Rettung entscheiden könne.

    Auch in der Außenpolitik reichen einhundert Tage kaum, die Erfolgsaussichten eines neuen Kurses zu beurteilen. Große Krisen sind Obama bislang erspart geblieben; aber das könnte sich ändern.

    Als Obama Akten über die umstrittenen Foltermethoden freigab, wurde ihm der Vorwurf gemacht, von Expräsident Cheney beispielsweise und von einem ehemaligen Geheimdienstchef, dass er die nationale Sicherheit gefährde. Obamas Bemerkung, jene, die im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit die verschärften Verhörmethoden durchgeführt hätten, sollten nicht vor dem Kadi landen, führte zu lautstarken Protesten. Leitende Mitarbeiter des Justizministeriums, die unter Bush die unseligen Vernehmungspraktiken rechtlich abgesichert hatten, sollten sehr wohl zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Auffassung, die sich Obama, wie es scheint, inzwischen zu eigen gemacht hat.

    Obama: "In Bezug auf jene, die die rechtlichen Entscheidungen formuliert haben, ist dies eher eine Entscheidung des Justizministers im Rahmen verschiedener Gesetze; ich möchte das nicht präjudizieren."

    Senator Levin von Michigan hat dem Justizminister empfohlen, ehemalige Richter mit der Sichtung des Materials zu beauftragen. Senatorin Feinstein von Kalifornien, die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses, will dessen Untersuchung bis zum Jahresende abgeschlossen haben.
    Der Krieg im Irak, die geheimen Gefängnisse, die Überstellung von mutmaßlichen Terroristen an Staaten, in denen mit einiger Sicherheit gefoltert wird, haben zu weltweiter Kritik geführt. In der islamischen Welt steht nicht mehr die Freiheitsstatue für Amerika, sondern die jämmerlichen Fotos aus dem Gefängnis von Abu Ghraib. Obama bestreitet das nicht, er verweist aber auf die Existenz eines anderen Amerika. In Istanbul sprach er von Stereotypen, die oft mehr mit Fernsehshows, Filmen und Fehlinformationen zu tun hätten als mit direkten Erfahrungen; sie unterstellten, dass Amerika selbstsüchtig und grob geworden sei und sich nicht für den Rest der Welt interessiere.

    Obama: "Ich sage, das ist nicht das Land, das ich kenne und nicht das Land, das ich liebe."

    In Straßburg sprach er von ehrlichen Gegensätzen in Grundsatzfragen - eine dezente Anspielung auf die europäischen Proteste gegen den Krieg im Irak -; aber in die Beziehungen habe sich noch etwas anderes eingeschlichen.
    Obama: "In Amerika macht man den Fehler, Europas führende Rolle in der Welt nicht zu würdigen. Aber in Europa gibt es einen Antiamerikanismus, der manchmal beiläufig, aber auch heimtückisch sein kann. Amerika ändert sich; aber es kann nicht Amerika alleine sein, das sich ändert."

    Es war kein Zufall, dass Obama sein erstes Interview als Präsident einem arabischen Satellitenkanal gab; er habe der muslimischen Welt zu vermitteln, dass Amerikaner keine Feinde seien.

    Obama sucht Brücken zu bauen, zugleich erneuert er den Führungsanspruch der Vereinigten Staaten. Er weiß allerdings, dass Führung voraussetzt, dass andere folgen. Seine Krisenfestigkeit ist noch nicht wirklich getestet worden.

    "We can have legitimate disagreements, but still be respectful."

    Dieser Satz - "Wir können berechtigte Meinungsunterschiede haben und doch respektvoll miteinander umgehen.” - taucht in Obamas Reden immer wieder auf. Er will die Beziehungen verbessern, zu den Verbündeten, zu Russland, zu China, zu den Staaten Lateinamerikas. Die Erleichterungen im Reise- und Devisenverkehr mit Kuba hatte er bereits im Wahlkampf in Aussicht gestellt.
    Obama: "Es ist an der Zeit, dass Amerikaner kubanischer Abstammung ihre Mütter und Väter sehen. Es ist an der Zeit, dass ihr Geld ihre Familien unabhängiger vom Castro-Regime macht."

    Der Ton macht die Musik; ja, aber die großen Probleme schafft er noch nicht aus der Welt. Nordkorea wirft Vereinbarungen zur Einstellung seines Atomwaffenprogramms über den Haufen, weil der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den jüngsten Raketenstart einmütig kritisierte. Piraten vor Somalias Küste kümmern sich nicht um Imagekorrekturen in Washington, die Terroristen in aller Welt auch nicht.
    Im Vorwahlkampf war Obama gefragt worden, ob er bereit sei, im ersten Jahr seiner Präsidentschaft ohne Vorbedingungen die Führer Irans, Syriens, Nordkoreas, Venezuelas und Kubas zu treffen. Die Antwort lautete: Ja; die Vorstellung sei lächerlich, dass jemand als Strafe empfinde, wenn man nicht mit ihm rede. Dies wiederum bezeichnete Hillary Clinton seinerzeit als unverantwortlich und naiv. Heute, als Außenministerin, dürfte sie das anders sehen.

    Obamas konzilianter Ton, sein Eingeständnis von politischen Fehlern stoßen in den Vereinigten Staaten nicht nur auf Zustimmung; dergleichen könne als Ausdruck der Schwäche missverstanden werden. Amerikaner wollen, dass ihr Präsident amerikanische Interessen selbstbewusst vertritt. Sie übersehen dabei, dass der verbindliche Ton es den Verbündeten sehr viel schwerer macht, Washingtons Bitten um Unterstützung abzuschlagen. Ob in Afghanistan oder anderswo.

    Biden: "Unsere Sicherheit ist eine gemeinsame und so ist, mit Verlaub, unsere Verpflichtung, sie zu verteidigen. Auf dieser Basis wollen wir an die Herausforderungen dieses Jahrhunderts herangehen. Amerika wird mehr tun - das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Amerika wird auch von unseren Partnern mehr verlangen."

    Vizepräsident Biden war das auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, an Deutlichkeit nicht zu überbieten.