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Kontrafaktische Geschichtsforschung
Was wäre, wenn Luther seine Thesen für sich behalten hätte?

Was wäre, wenn die Reformation nicht stattgefunden hätte? Der Historiker Matthias Pohlig betreibt Geschichtsforschung im Konjunktiv. Ohne Luther gäbe es keine Reformation und ohne den Glauben an ein göttliches Gesetz keinen Fundamentalismus, so Pohlig im Dlf.

Matthias Pohlig im Gespräch mit Christiane Florin | 28.12.2017
    Teilnehmer des Gottesdienstes sitzen am 31.10.2017 in der Schlosskirche in Wittenberg (Sachsen-Anhalt). Mit Gottesdiensten und einem Festakt erinnert die Evangelische Kirche an Luthers Thesenanschlag auf den Tag genau vor 500 Jahren. Der Theologe Martin Luther (1483-1546) soll der Überlieferung nach am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel der Kirche an die Tür der Schlosskirche angeschlagen haben. Das Datum gilt als Beginn weltweiter Veränderungen in Kirche und Gesellschaft.
    "Ein religiöses Thema bildet den Ausgangspunkt für politische, soziale, kulturelle, vielleicht sogar wirtschaftliche Umbrüche." Im Bild: Die evangelische Schlosskirche in Wittenberg (Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild)
    Christiane Florin: Nein, wir fangen die Reihe mit den 95 Thesen nicht wieder von vorn an. "If I had a Hammer" - Wenn ich einen Hammer hätte – der Konjunktiv stimmt auf ein Gedankenspiel ein. Was wäre wenn, die Reformation anders ausgefallen oder ganz ausgefallen wäre?
    Der Historiker Matthias Pohlig von der Universität Münster stellt Überlegungen dieser Art professionell an, um Ursachen und Wirkungen historischer Ereignisses exakter zu gewichten. Kontrafaktische Geschichtsschreibung heißt diese Disziplin.
    Ich habe vor der Sendung Matthias Pohlig interviewt und wir haben zunächst über die Vorläufer der Reformation gesprochen. Über Jan Hus zum Beispiel. Ohne Hus keinen Luther, stimmt das?
    Matthias Pohlig: Wenn Sie mich so darauf festnageln wollen, dann würde ich sagen: Jan Hus ist eine wichtige Identifikationsfigur und jemand, auf den Luther sich zunehmend beruft, aber Luther entwickelt das, was er theologisch wichtig findet, unabhängig von Hus und kommt zu Hus über Umwege.
    Florin: Was hatte Luther, was die Vorläufer nicht hatten?
    Pohlig: Den Buchdruck. Das ist das wichtigste. Die veränderte mediale Situation, die vor allem durch den Buchdruck geprägt wird und durch eine reformatorische Öffentlichkeit, die es möglich machte, sehr schnell in sehr hohen Auflagen, in sehr differenzierter Form, allerdings auch in propagandistischer, zugespitzter Weise die reformatorischen Botschaft unter die Leute zu bringen. Ich glaube, dass ein Unterschied zu Hus die politische Struktur des Heiligen Römischen Reiches ist mit den Reichsstädten, die unabhängig agieren, mit den vielen unterschiedlichen Territorien und der Konkurrenz der Fürsten untereinander, so dass Luther und die reformatorische Bewegung nicht einem Landesherrn und nicht einer Kirche gegenüberstehen, sondern sehr vielen unterschiedlichen Amtsträgern, kirchlichen und weltlichen. so dass es zum Beispiel, um auf den Buchdruck zurückzukommen, immer möglich ist, im Heiligen Römischen Reich etwas gedruckt zu bekommen, weil es zwar Zensur gibt und Unterdrückung, aber eben nicht überall.
    Wirkung auf alle Lebensbereiche
    Florin: Aber auf die Rolle des Buchdrucks oder auf die Rolle der Fürsten könnte man auch ohne kontrafaktische Fragen kommen, ohne kontrafaktisch zu fragen. Die konventionelle Geschichtswissenschaft hat das auch schon herausgefunden.
    Pohlig: Ja, natürlich. Wenn man danach fragt: Was waren die Ursachen der Reformation und wie hätte die Reformation stattgefunden, wenn diese und jene Ursache ausblieben wäre? Da ist es auffällig, dass die Forschung inzwischen ein Dutzend Faktoren herangezogen hat, die jeweils in einem Satz "Ohne X keine Reformation", "Ohne Humanismus keine Reformation", "Ohne Reichsstädte keine Reformation", ...
    Florin: Ohne Klöster keine Reformation.
    Pohlig:... ohne Reformatoren keine Reformation bishin zu: "ohne reformatorische Theologie keine Reformation". Je nachdem, wie man die Sätze bildet und was der Faktor X ist, wird der Schwerpunkt anders gesetzt. Wenn man gezwungen ist, die Faktoren zu gewichten, dann würde ich vermuten, dass die mediale Situation, also der Buchdruck, die Schnelligkeit, die Durchsetzung und auch die Konflikthaftigkeit der frühen Reformation ziemlich befeuert hat.
    Florin: Ein umstrittener Punkt ist in der gesamten Geschichtswissenschaft die Rolle der Person. Es gibt die Grundsatzdiskussion: Sind nicht Strukturen wichtiger als dieser Ansatz "Große Männer machen Geschichte"? Wie ist es mit der Person Martin Luther?
    Pohlig: Wenn man unter Reformation nicht eine jahrhundertelange Geschichte versteht, sondern diese Jahre ab 1517 bis in die 1520er Jahren hinein, dann ist es ohne die Person Luthers nicht denkbar. Denn Luther ist eine sehr außergewöhnliche Gestalt, auch gerade da, wo er von seinen persönlichen religiösen Problemen her hineingetrieben wird in eine Radikalisierung seiner eigenen Gedanken und er neigt dazu, bestimmte Dinge sehr grundsätzlich zu formulieren, und merkt, es gibt da ein Problem und arbeitet sukzessive seine Theologie aus. Ihm stehen eine ganze Menge Leute zur Seite und das Interessante an dieser frühen ist, dass sehr schnell alle möglichen Leute und Akteursgruppen ins Spiel kommen, die ansonsten keine Rolle spielen, also weibliche Flugschriftenautoren, Handwerker, städtische Bürgerschaften, die im Sinne eines politischen Konflikts die Reformation begrüßen. Aber dennoch ist es ganz klar so, dass Luther auch für die Zeitgenossen schon als eine ungeheure Symbolgestalt, als ein Autor mit völlig fantastischen Auflagenzahlen weit jenseits der normalen Gruppe der Reformatoren steht.
    Florin: Für die Zeitgenossen, aber noch stärker für die Nachgeborenen. An welche Ereignisse erinnern wir uns eigentlich, ohne dass wir uns zugleich an Personen erinnern?
    Pohlig: Das hängt vielleicht ein bisschen an der Art und Weise, wie gerade öffentliche Erinnerung strukturiert ist. Sie ist oft an Ereignisse angebunden. Das sind hin und wieder Kollektivereignisse, aber oft sind sie an einzelne Personen gebunden. Das ist auch nicht falsch. Aber bei der Reformation ist es das interessantere, zu sehen, wie jemand als einzelner ein persönliches und theologisches Problem hat und wie daraus dann ziemlich schnell ein letztlich nicht vorhersehbares politisches und soziales Umbruchsphänomen werden kann.
    Florin: Wenn Luther nicht religiöse Thesen veröffentlicht hätte, sondern, sagen wir, 95 Thesen zu einer gerechteren Wirtschaftsordnung, was wäre der Unterschied gewesen?
    Pohlig: Die Frage ist, ob er das überhaupt hätte tun können.
    Florin: Sagen wir: Er wäre kein Theologieprofessor gewesen, sondern ein Wirtschaftsexperte des ausgehenden Mittelalters, der frühen Neuzeit.
    Pohlig: Es hätten viel weniger Leute gelesen.
    Florin: Obwohl Gerechtigkeit die Menschen damals auch bewegte.
    Pohlig: Ja. Und es ist kein Zufall, dass aus dem religiösen Thema beispielsweise im Bauernkrieg dieses Freiheitsthema, das Luther ja tatsächlich umtreibt, aber in einer ganz anderen Weise, als wir es heute verstehen würden, von den Bauern aufgenommen wird und sofort gewendet wird auf die Freiheit von Unterdrückung. Insofern ist es kein Wunder, dass um 1500 ein religiöses Thema den Ausgangspunkt bildet für politische, soziale, kulturelle, vielleicht sogar wirtschaftliche Umbrüche, weil Religion der Bereich ist, der um 1500 in alle Lebensbereicht reingehört, so dass eine Änderung von Religion nicht nur eine Änderung von Religion ist, sondern sich daraus unmittelbar Fragen von Herrschaft, von gerechter Gesellschaft, von Teilnahme ergeben können.
    Florin: Jetzt sind wir bei der Frage nach der Wirkung. Sie haben die Bauernkriege angesprochen. Welchen Unterschied macht die Religion in einem Krieg? Bringt die Verschärfung und eine gewisse Unbedingtheit mit hinein oder macht sie eher Versöhnung möglich?
    Mit Findigkeit wird Gewalt aus der Bibel zu begründet
    Pohlig: Muss ich historikermäßig antworten: beides.
    Florin: Das hatte ich nicht anders erwartet.
    Pohlig: Die Bauernkriegsforschung ist sich unsicher, inwiefern der Bauernkrieg zur Reformation gehört oder ob er nicht beruht auf der spätmittelalterlichen Tradition von Bauernrevolten. Die Reformation wirkt insofern verschärfend, als man ein Argument findet, dass man vorher nicht hatte, nämlich das sogenannte göttliche Recht; dass aus dem Evangelium abgeleitet wird, was man fordern will. In den späteren Religionskriegen - Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts oder im 30jährigen Krieg in Deutschland - ist Religion mindestens sehr lange eine Legitimationsressource für Argumente, um Krieg zu führen. Wobei diese Kriege in der Regel als Verteidigungskriege angesehen werden, selbst dann, wenn man angreift, verteidigt man eigentlich, weil man den wahren Glauben oder die Ausübung des eigenen Glaubens meint verteidigen zu müssen. Gleichzeitigt sieht man im Kontext des 30jährigen Krieges auch, dass es Stimmen gibt, die aus religiösen Gründen den Krieg beenden wollen. Die große Tendenz ist eher die, dass Religion konfliktverschärfend wirkt und so eine Art von Fundamentalismus möglich wird und man mit einem ziemlich großen Potenzial an hermeneutischer Findigkeit die Bibel oder irgendwelche religiösen Argumente zusammensucht, um daraus Gewalt zu begründen.
    Florin: Eine kontrafaktische Fragen an Sie: Was hätte Ihnen ohne das Reformationsjubiläum gefehlt?
    Pohlig: Mir hätte vermutlich die Möglichkeit gefehlt, nachzudenken über die Verknüpfung von wissenschaftlicher Reformationsforschung und öffentlicher Geschichtskultur, und die Schwierigkeiten auch, die die Übersetzung des einen in das andere mit sich bringt. Ich glaube, dass das Reformationsjubiläum gute und interessante Veranstaltungen hervorgebracht hat, ich habe eine ganze Reihe schöner Ausstellungen gesehen, die ohne das Jubiläum vermutlich nicht stattgefunden hätten, aber diese öffentlichen Geschichtsjubiläen haben immer auch ihre Ambivalenzen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Christoph Nonn, Tobias Winnerling (Hg.): Eine andere deutsche Geschichte 1517–2017.
    Was wäre wenn... Ferdinand Schöningh Verlag 2017, 289 Seiten, 29.90 Euro.