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Kontroverse
Europäischer Islam, verzweifelt gesucht

Die Weltreligion verändert die Gesellschaften Europas, und sie wird selbst durch die Gesellschaften Europas verändert. In Berlin diskutierten Experten über das Verhältnis von Scharia und Freiheit, Extremismus und Ausgrenzung. Veranstalter waren der ORF, die Bertelsmann-Stiftung und das Deutschlandradio.

Von Kirsten Dietrich | 07.06.2016
    Europäischer Islam, Euro-Islam, Islam europäischer Prägung – es geht um mehr als nur um Markennamen, wenn über die passende Bezeichnung gestritten wird für das, was Muslime in Europa leben und denken. Auf dem Podium in der Berliner Niederlassung der Bertelsmann-Stiftung debattierten vier Experten darüber, welcher Islam sich in den europäischen Gesellschaften entwickelt. Bekir Alboga, Generalsekretär der türkischen islamischen Organisation Ditib, des mitgliederstärksten muslimischen Verbandes in Deutschland, setzt auf die Kraft der Praxis: "Es ist kein Thema für uns. Wir diskutieren in unseren Moscheegemeinden nicht, wie wir die Scharia - in Anführungszeichen - in Deutschland einführen wollen. Ganz im Gegenteil."
    Dem widerspricht Ednan Aslan, Professor für islamische Pädagogik in Wien: Wenn die europäische Praxis weiter nur eine Ausnahme bleibt, nimmt sie der oft strengeren Tradition nichts von ihrem Bedrohungspotential und auch ihrer Verführungskraft.
    "Wenn wir sagen: Schariagesetze, Strafmaßnahmen gelten hier für uns in Deutschland nicht, bedeutet, ich werde die Frauen, Männer hier nicht steinigen, aber wenn ich in Saudi-Arabien bin, werde ich das tun - das ist keine Grundlage für einen Islam europäischer Prägung", sagt Edman Aslan.
    Auch Muslime müssten grundlegend darüber reden, was Scharia im 21. Jahrhundert bedeute. Dass die Scharia kein archaisches Gesetzbuch ist, das Muslime an Stelle des Grundgesetzes setzen wollen, kann eigentlich jeder ehrlich Interessierte inzwischen wissen. Aber die Abgrenzung von islamfeindlichem Populismus ersetze nicht die eigene Auseinandersetzung mit Traditionen.
    Asland: "Deshalb brauchen die Muslime eine offene, innerislamische Debatte darüber, wie wir Scharia in Freiheit in Deutschland, in Österreich definieren können - das ist für uns eine wichtige Aufgabe, weil sehr viele Muslime in den islamischen Ländern diese Debatte nicht führen dürfen."
    Teil dieser Debatte muss es dann auch sein, eine muslimische Antwort auf fundamentalistische Strömungen wie den Salafismus zu finden. Das mahnt der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, selbst aktiver Katholik, als Stimme der Mehrheitsgesellschaft sehr massiv an.
    Er sagt: "Die Forderung nach einem Islam, er möge deutlich sich unterscheiden, auch in der Art, wie er öffentlich sich in unserem Lande präsentiert, von dem, was wir aus dem Nahen Osten wahrnehmen. Und wir wollen hören und wissen, dass es diese innerislamische Auseinandersetzung gibt."
    Doch zur Vielstimmigkeit des Islams in Europa gehört eben der radikalisierte Islam als eine Stimme dazu. Das betont zum Beispiel die Studie "Auf dem Weg zu einem Europäischen Islam – oder ist dieser längst Realität?", die die Islamwissenschaftlerin und Journalistin Julia Gerlach im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt hat. Und sie betont: ein europäischer Islam muss die Vielstimmigkeit zu einem Wert machen. "Wenn es darum geht, eine zeitgemäße Interpretation des Islams auszubilden und die passende Theologie für den Alltag der Muslime in Deutschland zu entwickeln - nicht zuletzt, um auch dem Salafismus Paroli zu bieten - so wird das nur durch einen Diskurs unterschiedlicher Strömungen gelingen."
    Eine solche offene Debatte kann allerdings nur in einer Gesellschaft stattfinden, in der Muslime sich auch sicher und anerkannt fühlen. Marwa El Roumi von der Jugend der islamischen Organisation Liga-Kultur aus Wien kehrt die Perspektive um: "Ich sehe aber die Wichtigkeit und die Relevanz in der Frage: Wollen wir europäische Muslime? Sind wir damit einverstanden oder erlauben wir den Muslimen, eine europäische Identität zu haben? Was wir jetzt leider erleben, ist eine Ausgrenzungsgesellschaft."
    Dazu Ednan Aslan: "Dass die Muslime in Europa Ausgrenzungs-, Diskriminierungserfahrungen machen, ist eine Tatsache, das darf man nicht bestreiten. Aber das wäre für die Muslime eine Falle, wenn wir die Gesellschaft aus einer Opferrolle betrachten."
    Wer Ausgrenzung fürchtet oder erlebt, führt keine Grundsatzdebatten, sondern schließt die Reihen. Die Anerkennung auch der islamischen Organisationen könnte deshalb vor allem wichtig sein als Beitrag zu einer theologischen Debatte, die die Grundlagen des Islams ins Gespräch mit der Moderne bringt – und nicht nur ein wichtiges gesellschaftliches Signal. Bekir Alboga, der Generalsekretär der Ditib:
    "Am Ende erwarten wir, dass wir auch Körperschaft des öffentlichen Rechtes sind, dann haben wir das Gefühl, wir sind den christlichen und jüdischen Gemeinschaften gleichgestellt, aber bis dahin müssen wir Geduld haben. Geduld heißt nicht, tatenlos zuzuschauen, wir sprechen, wir führen Debatten, wir diskutieren, wir bringen uns sehr aktiv ein in diesen Prozess. Am Ende dieses Prozesses werden wir anerkannt, daran zweifle ich nicht. Sonst wäre das wirklich eine miserable Katastrophenlage."
    Es sind zwei verschiedene Debatten, die da im Hinblick auf den Islam in Europa geführt werden müssen: Das eine ist die Frage, wie der Islam als Religion seinen Platz unter den in Europa anerkannten und gelebten Religionen findet. Das andere ist die Suche danach, ob und wie sich aus den verschiedenen Facetten des Islams eine gemeinsame Wertegrundlage entwickeln lässt. Die soll die Unterschiede gerade nicht einebnen, aber doch Kriterien entwickeln, um die verschiedenen Spielarten des Islams zu beurteilen - gerade auch durch und für Muslime. Ednan Aslan will sich dieser Herausforderung gerne stellen.
    Ednan Aslan: "Nirgendwo geht es den Muslimen so gut wie in Europa. Diese Freiheit ist eine Herausforderung, diese Freiheit ist für uns eine Aufgabe."