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Kontroverse um die Zugehörigkeit zum Judentum
"Wie jüdisch bist du eigentlich?"

Max Czollek gilt als wichtige jüdische Stimme. Der Publizist sei gar kein Jude, wirft ihm der Schriftsteller Maxim Biller vor. Das Religionsgesetz gibt Biller recht: Demnach ist jüdisch, wer eine jüdische Mutter hat. Aber wer im Diskurs als Jüdin oder Jude spricht, bestimmt nicht allein das Religionsrecht.

Von Carsten Dippel | 06.09.2021
Max Czollek mit Hemd, Pullover und Mütze vor einem Mikrofon auf einer Bühne.
Identität und Anerkennung - kann Max Czollek als Jude sprechen, obwohl er es streng genommen nicht ist? (Imago / gezett)
Am 20. Juli twitterte der Publizist Max Czollek:
"Für Maxim Biller bin ich übrigens kein Jude. Vielleicht sollten wir auch mal über inner-jüdische Diskriminierung sprechen."
Das hat gesessen. Dieser Tweet versprach sofortige Aufmerksamkeit. Maxim Biller ist nicht irgendwer, sondern ein erfolgreicher – jüdischer - Schriftsteller und Kolumnist, der selbst die spitze Feder nicht scheut. Max Czollek wiederum gilt spätestens seit seinem Buch "Desintegriert euch!" als streitbarer linker Intellektueller. Er provoziert gern, sucht das Scheinwerferlicht. Er brachte es ins deutsche Fernsehen und in die New York Times. Er wird wahrgenommen als eine der jüdischen Stimmen in Deutschland.
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Tatsächlich jüdisch? Hier fängt die Sache an, kompliziert zu werden. Czolleks Großvater, Walter Czollek, war ein jüdischer Kommunist und Widerstandskämpfer, er hat das Konzentrationslager Dachau überlebt und später in der DDR den Verlag "Volk und Welt" gegründet. Max Czollek erzählt gern die Geschichte, wie sein Vater, den er früh verlor, ihm am Kinderbett jüdische Partisanenlieder vorgesungen habe.
Die Halacha, das religiöse Gesetz, definiert jedoch die Zughörigkeit anders. Halachisch betrachtet, ist Max Czollek als Sohn eines sogenannten Vaterjuden nicht jüdisch.
Die Halacha ist das jüdische Religionsrecht. Dieses besteht aus den 613 Geboten der Tora, deren Auslegung im Talmud und der Tradition. Jüdisch ist laut Halacha, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist.
"Wir müssen eigentlich davon ausgehen, dass Halacha heute für die meisten Juden außerhalb Israels keine Relevanz mehr hat", sagt Sandra Anusiewicz-Baer. Sie hat über die Jüdische Oberschule in Berlin, auf die auch Max Czollek ging, promoviert und sich eingehend mit Fragen zur jüdischen Identität beschäftigt. "Wo Halacha jedoch Bedeutung beansprucht und Relevanz, ist in der Statusdefinition. Also in der Frage, wer jüdisch ist. Und das ist unabhängig und manchmal, das trifft auch auf diese Debatte zu, konträr zu der Eigendefinition und zu der eigenen Wahrnehmung. Und da treffen eben diese beiden Konzepte aufeinander: Status, also was rechtliches, religionsgesetzliches Konzept und Identität, was eben ein sozialpsychologische Begriff ist."

Das Zahlenschloss des Türcodes

Anuseiwicz-Baer leitet die konservative Rabbinerausbildung am Zacharias Frankel College in Potsdam. Sie beschreibt das Judentum als eine Art Gebäude, zu dem man Zugang findet, wenn man den Zahlencode des Türschlosses knackt. Qua Geburt durch eine jüdische Mutter oder durch intensives Lernen der hebräischen Sprache, der Gebote, der jüdischen Tradition und Geschichte.
Mitgliederschwund in jüdischen Gemeinden
Die jüdischen Gemeinden in Deutschland verlieren jedes Jahr rund 1.000 Mitglieder. Soll der Zugang zur Gemeinde erleichtert werden? Das wünschen sich vor allem aus Russland stammende Juden, die keine jüdische Mutter vorweisen können.
In seiner Replik auf den Tweet von Max Czollek beschreibt Maxim Biller in einer Kolumne der Wochenzeitung "Die Zeit" die Begegnung auf dem Dach der Berliner Akademie der Künste so: Er hatte seinem Autorenkollegen gerade gesagt, er sei doch gar kein Jude. Darauf Max Czollek:
"Spielst du Judenpolizei mit mir?"
Billers Antwort: "Ja genau, erwiderte ich, weil ich Leute wie dich, die zur Zeit als Faschings- und Meinungsjuden den linken Deutschen nach dem Mund reden, kaum noch aushalte."
Der Publizist Micha Brumlik kennt und schätzt Czollek seit vielen Jahren. Czollek sei ein interessanter Essayist und Dichter mit Mut zur Provokation. Problematisch sei jedoch, dass er in der Öffentlichkeit als repräsentativer Vertreter der jüdischen Gemeinschaft angesehen werde. Mischa Brumlik sagt: "Ich erlebe die aktuelle Debatte so, dass Maxim Biller Czollek in einer ehrabschneiderischen Weise angegriffen hat. Das betrifft aber vor allem die Form. Rein inhaltlich gebe ich Biller recht, dass Personen nicht alleine entscheiden können, ob sie der jüdischen Gemeinschaft angehören oder nicht."
Das ist auch die Position des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sein Präsident Josef Schuster hatte sich zum Fall Czollek in der Jüdischen Allgemeinen geäußert und klar gemacht, wo die rechtlichen Linien verlaufen, ohne Czollek seine jüdische Identität abzusprechen.
Sandra Anusiewicz-Baer erklärt: "Vaterjude ist ja überhaupt kein halachischer Begriff, sondern ein soziologischer Begriff. Und als soziologischer Begriff, finde ich, man muss natürlich anerkennen: Diesen Erfahrungsraum, der sich damit verbindet. Also wenn jemand einen jüdischen Vater hat und eine nichtjüdische Mutter, dann kann dieser Person natürlich dieser Erfahrungsraum, wie das ist, mit einem jüdischen Vater aufzuwachsen, niemand absprechen." Das zeigten gerade familiäre Erfahrungen von Flucht und Verfolgung, von Holocaust-Schicksalen, die prägend für die eigene Identität sein können.
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Anusiewicz-Baer ergänzt: "In diesen spezifischen Erfahrungsraum kann natürlich auch niemand hinein, der nicht diesen jüdischen Elternteil, diese Erfahrung gemacht hat. Aber es ist und bleibt eine soziologische Kategorie und damit eben kein Recht, kein Anrecht auf eine halachische Anerkennung. Das ist etwas, was wir ganz klar unterscheiden müssen."

Von Vaterjuden und Großvaterjuden

Die Problematik der Vaterjuden, in Max Czolleks Fall gar die der Großvaterjuden, mit all den rechtlichen, halachischen Fragen, aber auch den Folgen für die jüdische Gemeinschaft, wird auch in Deutschland seit langem diskutiert. Zumal mit der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion viele Jüdinnen und Juden ins Land gekommen sind, die in der Sowjetunion kaum noch einen religiösen Bezug zum Judentum hatten, wohl aber aufgrund der Familiengeschichte eine jüdische Identität bewahrt haben.
Das kommunistische Regime hat Judentum als Nationalität definiert, weshalb im Pass unter der Rubrik Nationalität "Jude" eingetragen wurde, die wiederum über den Vater weitergegeben wurde. Viele dieser jüdischen Einwanderer sind – halachisch betrachtet – Vaterjuden. Nach Deutschland konnten sie als Kontingentflüchtlinge kommen, obwohl sie hier von den Gemeinden nicht anerkannt wurden.
Die Position des Zentralrats der Juden in Deutschland: Präsident Josef Schuster drängt seit langem auf einen vereinfachten Übertritt für jüdische Zuwanderer, die keine jüdische Mutter haben. In einem Gespräch im Deutschlandfunk sagte er Anfang 2020, also schon lange vor der aktuellen Debatte: "Der Vorschlag oder die Anregung, die ja nicht nur erst von mir kommt, schon auch meine Amtsvorgänger immer wieder ja fast eingefordert haben, findet – so habe ich das Gefühl – nicht so ganz den Widerhall bei der Orthodoxen Rabbinerkonferenz, wie ich es mir eigentlich wünschen würde."
In einem Artikel in der "Jüdischen Allgemeinen" zum Fall Czollek stellte Josef Schuster die Halacha dar, ohne Czllek seine jüdische Indentität abzupprechen. Er schrieb unter anderem: "Doch unabhängig davon, wie man dazu steht, ist für mich etwas ganz anderes entscheidend: Aufrichtigkeit. Wer das eigene Wirken in der Öffentlichkeit über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft legitimiert, sollte ehrlich sein. Von den Medien kann man nicht erwarten, dass sie genau die Abstammung hinterfragen und sich mit dem seit Jahrtausenden unveränderten jüdischen Religionsgesetz auskennen. Doch die Betreffenden selbst sollten ausgerechnet mit der Konfession nicht umgehen wie mit einem Modetrend. Sie schaden damit der Religionsgemeinschaft. Vor allem aber sich selbst."
Eine Vereinfachung der Zutrittsmöglichkeiten für sogenannte Vaterjuden sei möglich, sagt Sandra Anusiewicz-Baer. Zumal die Erwartung eines Gijurs, eines formalen Übertritts für Vaterjuden auch etwas verletzendes haben kann. Er besagt ja, vorher sei man kein Jude gewesen.
Anusiewicz-Baer: "Die Halacha sollte genügend Flexibilität besitzen sollte, um hier neu zu diskutieren und neu zu justieren. Damit meine ich nicht, dass man sozusagen die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, die Zugangsvoraussetzung außer Kraft setzen soll. Aber man kann natürlich helfen. Und ich finde, dass die Gemeinden hierzulande es nur eben einfacher machen sollten. Diejenigen, die gewillt sind, diesen Staus zu erlangen, den Zugang zu erlangen, denen sollten keine Steine in den Weg gelegt werden.
Max Czollek befeuerte die Auseinandersetzung auf Twitter. Er teilt gegen den Zentralrat aus, bezichtigt Schuster einer rechten Meinung. Es melden sich Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Community zu Wort, die Czollek verteidigen oder kritisieren.
Die Schriftstellerin Mirna Funk, aus einer Familie mit einem jüdischen Vater kommend, missbilligt das Verhalten Czolleks in einem wenige Tage alten FAZ-Artikel. Sie schreibt darin etwas Bemerkenswertes: Dass Billers Text erscheinen würde, habe sie seit mindestens einem Jahr geahnt, behauptet sie. "Ich selbst wurde vor Monaten von einem Redakteur einer großen deutschen Zeitung gefragt, ob ich nicht den Max-Czollek-Enthüllungsessay schreiben wolle. Ich lehnte ab, obwohl ich allen Grund dazu gehabt hätte, denn auch mich hatte Czollek belogen. Aber, wer bin ich, hier auf Halacha zu machen, sagte ich dem Redakteur, das sollen andere tun."
Wenn das stimmt, dann sagt diese Debatte über innerjüdische Fragen um Zugehörigkeit und Identität hinaus noch weit mehr. Denn sie berührt das sensible Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Sie verrät etwas über die Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden durch die nichtjüdische Öffentlichkeit. Max Czollek grenzt sich von dem ab, was er für die jüdische Mehrheitsmeinung hält. Das nichtjüdische deutsche Publikum, das zeigt sein medialer Erfolg in den letzten Jahren, springt aber genau darauf offensichtlich an. Nun stellt sich anhand der Kontroverse die Frage: Wer darf für sich beanspruchen, als jüdische Stimme wahrgenommen werden? Wer darf als Jude die Mehrheitsgesellschaft provozieren? Wie ausschlaggebend ist es für die Teilnahme an einer Debatte, ob jemand religionsgesetzlich jüdisch ist? Wer darf für sich in Anspruch nehmen, eine jüdische Stimme zu sein? Was eine jüdische Stimme ist, sagt das Religionsgesetz schließlich nicht.
Um noch einmal Maxim Biller zu zitieren: "Ich fand mich etwas zu ernst, aber die Sache war ja auch ernst, weil inzwischen zu viele deutsche Intellektuelle in ihre gojischen Biografien jüdische Episoden und Leitmotive hineinredigierten."
Maxim Biller, Max Czollek, Mirna Funk und Josef Schuster wollten sich auf Anfrage des Deutschlandfunks nicht öffentlich äußern.