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Kooperation ist im Gehirn nicht immer nötig

Neurologie. - Das Gehirn ist ein ausgesprochen komplexes Organ, in dem zahllose Nervenzellen zusammenarbeiten. Diese Vorstellung, dass nur Nervenverbände für komplexe Steuerungen verantwortlich sein können, stimmt offenbar nicht. Deutsche Wissenschaftler berichten in der aktuellen "Nature" davon, dass einzelne Nervenzellen einzelner Barthaare einer Ratte steuern.

Von Klaus Herbst | 19.02.2004
    Die Hirnrinde ist der Sitz der Sinneswahrnehmungen und deren Verbindungsstelle zum Bewegungsapparat. Bislang haben Hirnforscher angenommen, dass komplexe Bewegungsabläufe - wie zum Beispiel die rhythmischen Bewegungen der Tasthaare von Tieren - immer von Zellverbänden, also von Gruppen mehrerer Nervenzellen, gesteuert werden. Ein Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung Heidelberg ist nun zu einem neuen Ergebnis gekommen. Michael Brecht:

    Die Überraschung ist jetzt, dass eine einzelne Zelle in einem sehr großen Netzwerk der Hirnrinde so effektiv sein kann. Der Teil des Gehirns der Ratte, der diese Tasthaarbewegungen, die wir untersuchen, steuert, enthält etwa eine Million Neurone. Und da war es eine große Überraschung, dass Impulse einer einzelnen Zelle so große Bewegungen ausführen konnten.

    Die Methode nennt sich Patchen. Sie ist Teil einer elektrophysiologischen Technologie, für die bereits 1991 Bert Sakmann, der Chef von Michael Brecht, einen Nobelpreis bekommen hat. Brecht setzt eine Glaspipette vorsichtig auf die Zellmembran auf, dringt in einem weiteren Schritt des Experiments in die Zelle ein und reizt schließlich die einzelne Zelle mit einem elektrischen Strom. Das Resultat: Die Tasthaare der Versuchstiere bewegten sich mehrere Sekunden lang. Und: Die Tasthaare tun das nicht sinnlos, sondern in ganz bestimmten, funktionalen Schwingungen, so wie in der Natur.

    Die Ratten benutzen ihre Tasthaare, um die Umwelt zu erkennen und die spielen eine sehr große Rolle in der räumlichen Orientierung. Die können also auch nachts rumlaufen, durch Gänge, finden sich damit sehr gut zurecht. Die Bewegungen sind immer rhythmisch. Und die evozierten Bewegungen durch die Reizung einer einzelnen Zelle waren also auch streng rhythmisch.

    Eine einzelne Zelle löst also hoch komplizierte Bewegungsabläufe aus. Michael Brecht illustriert mit einem Beispiel aus der Soziologie, wie ungewöhnlich das scheint:

    Erst mal hat es uns überrascht, dass das überhaupt möglich ist, weil das Netzwerk sehr groß ist. Wenn man eine Million Mitglieder hat, eine Stadt von einer Million, da zählt jemand auf zehn, wenn da was passieren würde, das ist doch durchaus unerwartet. Was wir nicht wissen: Wie macht's diese einzelne Zelle dann zum Teufel? Wie kann das sein, dass diese eine Zelle da über Sekunden was macht? Also, man stimuliert kurz, das sind fünf oder zehn Impulse, ein-, zweihundert Millisekunden. Und dann geht es für viele Sekunden, macht das Tier seine Bewegungen. Und das hat was ganz Gespenstisches.

    Aber könnte es nicht sein, dass bei diesem faszinierenden Effekt doch mehrere Zellen elektrisch angeregt werden? Michael Brecht hält dies nicht für möglich. Die verwendeten Ströme sind nämlich unvorstellbar klein. Bei einer Stromstärke von einem Nanoampere, einem Millionstel Ampere, können keine Nachbarneurone in einen Reizzustand versetzt werden. Der Heidelberger Forscher denkt weiter: Das neue Verständnis vom Gehirn könnte die Lebensqualität von Menschen nach der Amputation von Gliedmaßen entscheidend verbessern. Wenn man - zunächst im Tierversuch - unterschiedliche Frequenzen an einzelne Zellen anlegt, dann bringt dies auch unterschiedliche Bewegungen hervor. Prothesen viel exakter ansteuern als üblich - das wäre ein Konzept für innovative künstliche Gliedmaßen, die besonders subtil, also viel lebensechter arbeiten würden als konventionelle.

    Dass meinetwegen eine Zelle, wenn man die mit unterschiedlichen Frequenzen reizt, durchaus unterschiedliche Bewegungsrichtungen ansteuern kann, wenn man mit solchen Signalen, wie sie diese Zellen produzieren, künstliche Arme oder so einen verlorengegangenen Arm steuern will, dann wird man das dafür brauchen. Und man wird sehr viel besser in der Lage sein, die zelluläre Aktivität für solche neuroprosthetischen Mechanismen zu lesen. Wofür das Experiment ein unglaubliches Potenzial hat ist zu verstehen, was die Zellen der Peripherie sagen wollen. Und tatsächlich, wenn wir dahinkommen wollten, dass wir durch Abhören von Zellen künstliche Arme, künstliche Beine und so was steuern, dann müssen wir diese Zellen sehr gut verstehen.