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Kopf des Cinema Novo

Brasiliens Filme gehören zu den kreativsten Produktionen des lateinamerikanischen Kinos, seit in dem Riesenland eine gründliche Erneuerung der Filmkunst stattgefunden hat. Ihr wichtigster Regisseur war Glauber Rocha, ein Künstler von genialischem Format, ein filmischer Rebell, der auch die theoretischen Grundlagen für das Neue Kino schuf.

Von Peter B. Schumann | 22.08.2006
    Ganz neue Geschichten werden Anfang der 1960er Jahre von brasilianischen Filmen in den Kinos des Landes und bald auch Europas verbreitet. Geschichten, die von Ausbeutung, Rebellion und Mystizismus handeln. Gott und Teufel im Land der Sonne heißt eines dieser Werke, das bei Cineasten längst Kultstatus genießt. Sein Regisseur war damals 25 Jahre alt: Glauber Rocha. Er galt bereits als der Kopf einer ganzen Bewegung, Cinema Novo genannt, Neues Kino. Es wollte auch in Brasilien jene filmische Erneuerung entfachen, die in Frankreich als Nouvelle Vague und in Italien als Neorealismo Vorbilder geschaffen hatte.

    "Irgendwann auf einem Kongress in Sao Paulo sprachen wir davon, dass der neue Film überall auf der Welt einen sehr großen Widerspruch in sich birgt: Entweder ist er mit allen technischen Neuerungen gemacht und geht an den aktuellen Problemen vorbei, oder er nimmt sich bewusst aktueller Themen an und bleibt in formaler Konvention stecken. Das Cinema Novo musste deshalb eine neue Sprache finden, die den Fragen der Zeit gerecht wurde.Vor diesem Problem standen wir 1960: Wir mussten endlich weg von der starren Kamera und den künstlichen Kulissen, hin zur offenen Diskussion, zum polemischen Film."

    Mit Werken wie Gott und Teufel im Land der Sonne wollte Glauber Rocha, wollten die Regisseure des Cinema Novo in den 60er Jahren dem Zuschauer ein Bewusstsein von der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Situation vermitteln. Rocha bricht dabei radikaler als seine Kollegen mit der Erzählkonvention. Aus Brüchen und Gegensätzen gewinnen seine Filme ihre besondere Dialektik und Schönheit - genial in "Terra em Transe" (Land in Trance), seinem Meisterwerk von 1967.
    Er erzählt darin von dem Dichter Paulo, einem Intellektuellen, der sich zuerst auf den pseudoreligiösen Machtwahn von Díaz, einem politischen Aufsteiger, einlässt und sich dann dem populistischen Reformer Vieira verschreibt, doch eigentlich Sara, eine Kommunistin, liebt. Am Schluss will er allein seine eigene Revolution machen. In visionären Bildern, poetischen Zitaten und einem bewusst pathetischen Duktus - "Unsere Politik gleicht einer Oper", hat er dazu gesagt - beschreibt Glauber Rocha die intellektuelle Zerrissenheit, die auch ihm nicht fremd war.

    "Terra em Transe" war der Höhepunkt von Brasiliens kulturellem Aufbruch der 60er Jahre, der sich in Film, Musik und bildender Kunst ausdrückte: Tropikalismus genannt. Die Militärs beseitigten ihn in einer Welle von Gewalt, mit der sie Ende 1968 das Land überzogen. Glauber Rocha konnte gerade noch "Antonio das Mortes" fertigstellen, drehte dann in Afrika "Der Leone Have Sept Cabecas" und in Spanien "Cabezas Cortadas". Er blieb im Ausland, wählte das Exil aus Protest gegen den Terror der Militärs, er, der gerade noch verkündet hatte:

    "Wir wollen mit unserem neuen Kino die Erfahrungen des revolutionären sowjetischen Films und die des spektakulären amerikanischen Films mit denen des intellektuellen kapitalistischen Films in Europa verbinden: John Ford und Jean Vigo mit Eisenstein kreuzen."

    Der eben noch auf europäischen Festivals Gefeierte fand von nun an keine Produzenten mehr für seine auch immer esoterischer werdenden Filme. 1976 ging Rocha nach Brasilien zurück. Aber es sollte Jahre dauern, bis er endlich, 1980, wieder einen Spielfilm drehen konnte: "A Idade da Terra" (Das Alter der Erde), sein letztes Werk, sein Vermächtnis. Stellt man diesen Film in den Kontext des gebildeten Kunstgewerbes, in das sich das brasilianische Kino weitgehend verwandelt hatte, dann wirkt er wie eine einsame Alternative zu allem, was herrscht, exzentrisch, radikal, besessen.

    Am 22. August 1981 starb in einem Krankenhaus in Rio de Janeiro an Lungenkrebs im Alter von 42 Jahren. Ein Einzelkämpfer wie Paulo, der politisierende Dichter, ein extremer Denker, gefährdet wie alle Genies.