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Kopftuchdebatten in Europa
Niqab, Burka, Hijab?

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in den Medien über das Für und Wider islamischer weiblicher Bekleidung berichtet wird. Etwa in der Debatte über die Zulässigkeit der Vollverschleierung, die zuletzt in Deutschland geführt wurde. Die Soziologinnen Anna C. Korteweg und Gökce Yurdakul haben mit denjenigen gesprochen, die das Thema eigentlich angeht: den Frauen.

Von Eva-Maria Götz | 01.09.2016
    Vier muslimische Frauen in unterschiedlichen Schleiern: dem Hijab, dem Niqab, dem Tschador und der Burka.
    Muslime Frauen mit unterschiedlichen Schleiern (AFP PHOTO )
    "Es gibt sehr viel verschiedene Gründe, man kann nicht einfach sagen, das ist Unterdrückung von Frauen, deswegen die tragen Kopftücher." Oder besser: Selbstbestimmung von Frauen ist sehr wichtig in der Kopftuchdebatte und man kann nicht einfach sagen, das ist Unterdrückung von Frauen, sagt Gökce Yurdakul, Georg-Simmel-Professorin für Diversity and Social Conflict am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt- Universität Berlin.
    "Natürlich, es gibt die Frauen, die sind unterdrückt von ihren Familien, das kann man nicht einfach so ausschließen, aber man muss auch verstehen, dass viele Frauen, (sie) sehen das als Selbstbestimmung der Frauen."
    Der überwiegende Teil der Frauen wählt ihre Kleidung selbst und deswegen, so Gökce Yurdakul, sei das Tragen einer Kopfbedeckung durchaus zu vereinbaren mit den liberalen und feministischen Normen in unserer Gesellschaft. Es käme nur auf den Blickwinkel an und der sei eben oft männlich geprägt. Gemeinsam mit der an der Universität Toronto lehrenden Soziologin Anna C. Korteweg hat sie die Kopftuchdebatten in Frankreich und in der Türkei, in den Niederlanden und Deutschland in Bezug gesetzt zu der jeweiligen Geschichte und dem Selbstverständnis der Nationen:
    "Jede Nation hat ihre eigenen historischen Narrative, die bestimmen auch die Kopftuchdebatten oder Burkadebatten. Aber es ist auch sehr wichtig, diese in einem Kontext zu sehen und nicht einfach zu sagen, Kopftuchdebatte allgemein. Das ist sehr unterschiedlich."
    Muslimische Kleidung als Rückzug aus der Wertegemeinschaft
    So herrsche in Frankreich seit der Revolution ein republikanisches Ideal vor, dass auf den Prinzipien Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit bestünde. Gleichheit meint auch die religiöse Neutralität im öffentlichen Raum , Freiheit die Emanzipation aus religiöser Unterdrückung und Brüderlichkeit beinhaltet die zivile Loyalität gegenüber der bürgerlichen Gemeinschaft. Das Einverständnis aller StaatsbürgerInnen diesen Grundsätzen gegenüber gelte mehr als überbordender Individualismus oder Gruppenidentität. Das Tragen muslimischer Kleidung würde jedoch als Rückzug aus dieser republikanischen Wertegemeinschaft gewertet. Mehr noch: dadurch, dass die Trägerinnen ihre Religion sichtbar über das Gebot der religiösen Neutralität im öffentlichen Raum stellten, drohe geradezu das Gespenst der Auflösung des französischen Staates. Entsprechend rüde ist die Reaktion der staatlichen Organe: Kopftuchverbot seit 2004, Verbot der Vollverschleierung seit 2009 und in diesem Sommer die Diskussion um Burkinis an öffentlichen Stränden.
    Anders sieht der Umgang mit islamischer Kopfbekleidung in den Niederlanden aus. Gökce Yurakul: "Holland war immer und auch jetzt ein sehr offenes Land, die haben eine Kampagne gemacht mit Frauen, die trägt eine orange Kopftuch, das ist die nationale Farbe von den Niederlanden." Und unter den Fotos steht: Echt Niederländisch. Gökce Yurakul: "Und die machen so Witze, ... und sie sagen, die Frauen die Kopftuche tragen, kann gleichzeitig niederländisch sein."
    Doch trotz der in der niederländischen Gesellschaft verankerten Konzepte Toleranz und Pragmatismus wird auch in den Niederlanden dem Kopftuch und seiner Symbolik mit Argwohn begegnet. So forderte der Rechtspopulist Geert Wilders eine gesetzlich und gesellschaftlich allerdings abgelehnte "Kopflumpensteuer" und ein Verbot der Vollverschleierung wird bis heute diskutiert.
    Ein Riss durch die eigentlich laizistisch geprägte Türkei
    "Wenn Staat eine Verbot ausführt, das ist auch eine Unterdrückung von Frauen, von staatlicher Seite. Und dieser Staat ist nicht eine neutrale Staat, das ist eine patriachalische Staat, das bestimmt, was die Frauen tragen sollen. Das ist die eine Seite. Und die zweite ist: die Frauenrechte ist immer instrumentalisiert", meint Gökce Yurdakul. Dass nicht nur das Verbot, eine Verschleierung zu tragen, ein politischer Akt ist, sondern auch die Erlaubnis, zeigt das Beispiel Türkei. Das 2010 aufgehobene Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten führte dazu, dass Frauen aus Unter- und Mittelschicht mit religiösem Hintergrund in großer Zahl einen höheren Bildungsabschluss erwerben konnten. Die Auseinandersetzungen darum waren aber auch ein Zeichen für den Riss, der durch die eigentlich laizistisch geprägte türkische Gesellschaft ging und den Machtzuwachs der Regierungspartei AKP.
    In Deutschland trifft die Kopftuchdebatte auf eine Gesellschaft, die sich trotz aller Suche nach Homogenität als offen und nicht rassistisch empfindet. Muslime machen hier mittlerweile 5,2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das Kopftuchverbot gilt vor allem für den öffentlichen Dienst, ist föderal geregelt und wird immer wieder neu in Frage gestellt. Trotzdem, so die Autorinnen Anna C. Korteweg und Gökce Yurdakul, werden die Einschränkungen in der Berufswahl und die Diskussionen über ihr Aussehen von vielen Musliminnen als diskriminierend empfunden. "Die Diskussion ist immer mit Männern, immer mit Politikern und niemand fragt eigentlich die Frauen, die Kopftuch oder Niqab tragen, warum tragen Sie den Niqab, was denken Sie über die pluralistische Gesellschaft in Deutschland?"
    Man kann eigentlich sehr gut kommunizieren
    Wobei die Soziologinnen in ihrer Untersuchung gar keinen Unterschied machen zwischen Kopftuch und der das Gesicht bedeckenden Niqab. Das Argument, mit Menschen, deren Mimik man nicht erkenne, sei keine Kommunikation möglich, lässt Gökce Yurdakul nicht gelten. "Man kann eigentlich natürlich sehr gut kommunizieren mit Frauen, die tragen einen Niqab. Man kann in die Augen sehen oder die Stimme. Ich sehe kein Verhindernis, mit eine Frau zu sprechen, die hat eine Vollverschleierung."
    In ihrer Zeit als Studentin in Kanada habe die Wissenschaftlerin erlebt, dass verschleierte Frauen am Unterricht teilgenommen hätten, ohne dass Mitstudenten und Professoren daran Anstoß genommen hätten. "Frauen dürfen tragen, was sie wollen. Das gehört zu einer pluralistischen Gesellschaft, Deutschland möchte gerne eine pluralistische Gesellschaft sein, deswegen ich bin prinzipiell gegen ein Verbot der Vollverschleierung in Deutschland."
    Anna C. Korteweg und Gökce Yurdakul: "Kopftuchdebatten in Europa"
    transcript Verlag, Bielefeld 2016, 29,99 Euro (E-Book 26,99 Euro)