Freitag, 29. März 2024

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Kopftuchstreit bundesweit einheitlich regeln

Birke: Wir feiern Ostern, das Fest der Auferstehung Jesu Christi. Wie stark, Bischöfin Käßmann, ist denn in einer von Kommerz, von Schokoladenhasen und Osterurlaub geprägten Gesellschaft noch das Bewusstsein für den religiösen Hintergrund dieses Feiertages?

Moderation: Burkhard Birke | 11.04.2004
    Käßmann: Nun fürchte ich, dass viele den religiösen Hintergrund nicht mehr kennen. Wenn wir schon wissen, dass jeder vierte Jugendliche in Deutschland den Grund für Weihnachten nicht kennt, dann wird das bei Ostern noch schwieriger sein. Gleichzeitig ist aber dieses Fest so inhaltsschwer, dass ich mir wünschte, wir würden es besser ins Bewusstsein bekommen, weil die ganze Frage nach Tod, Angst, Sterben natürlich bei den Menschen sehr präsent ist. Ich denke, gerade nach dem Terroranschlag von Madrid ist für viele dieses Lebensgefühl, wir könnten in unserer Existenz bedroht sein, durchaus sehr nahe. Und dass wir als Christinnen und Christen glauben, dass Gott bei uns ist über den Tod hinaus, also der Tod keine Sackgasse ist, sondern eine Station auf der Einbahnstraße zu Gott hin und das Leben mehr ist als das, was wir sehen, das – denke ich – ist eine ungeheuer wichtige Botschaft. Ich wünschte mir, dass die Menschen das stärker sehen würden und nicht nur Ostern als irgendein Frühlingsfest mit vielen bunten gelben Blumen, Eiern und ähnlichem mehr sehen.

    Birke: Diese Konfrontation mit dem Tod, die uns ja auch durch die Terroranschläge noch einmal sehr bewusst vor Augen geführt worden ist, diese Konfrontation mit dem Tod jetzt für eine religiöse Botschaft zu nutzen – wie können Sie das auf moderne Art und Weise im Rahmen der evangelischen Kirche durchführen?

    Käßmann: Für mich ist immer wichtiger geworden in den letzten Jahren, dass wir in einer Erinnerungskultur leben, gerade als Christinnen und Christen, wie das Judentum eben auch, das Wieder- und Wiedererzählen der alten Geschichten von Generation zu Generation. Und in unserer Zeit im Moment gibt es da ganz schwere Brüche. Es wird nicht mehr erzählt über Generationen hinweg. Gleichzeitig ist ein ganz großes Bedürfnis da, das Leben stärker einzuordnen in einen Sinnzusammenhang. Das ist eigentlich für die Kirchen eine ganz große Chance, aber sie brauchen auch eine Sprache, die die Menschen von heute verstehen. Und dass es eine Sehnsucht gibt nach Religion, nach Religiosität, nach Spiritualität, das ist durchaus spürbar, da müssen wir uns nur den Esoterikmarkt anschauen – oder nehmen wir mal etwas wie die Trauerakademie von Herrn Roth, wo Bestattung in anderen Formen möglich wird, oder die Friedwaldbewegung. Also ich wünsche mir, dass wir als Kirchen viel offensiver mit unseren ganz traditionellen Inhalten umgehen und sagen: Sterben, Tod ist Teil des Lebens – ja. Und unsere frohe Botschaft ist eben, dass Gott uns hält. Jesus Christus ist auferstanden, ist wahrhaftig auferstanden. Das ist ja das, was Ostern sozusagen den Jubel auslöst oder auch das Osterlachen. Das muss stärker offen gesagt werden und auch gelebt. Nietzsche hat ja mal gesagt, wenn die Christen ein bisschen erlöster aussehen würden, dann könnte er sich der Sache annähern. Ich glaube, das Christentum ist viel zu zurückhaltend in seiner Kernbotschaft.

    Birke: Heißt das, die Kirche, Frau Käßmann, müsste auch moderner in ihren Ausdrucksformen werden, heißt das, Sie könnten sich auch Hip-Hop im Gottesdienst vorstellen?

    Käßmann: Also das ist, denke ich, überhaupt kein Problem. Wir müssen in den unterschiedlichen Kulturen, in denen das Christentum lebt, in den verschiedenen Zeiten
    ja immer Elemente auch der Kultur jetzt aufnehmen. Also, Bach ist die Musik aus der einen Zeit, in der Bach gelebt hat, die wir heute zum Teil auch noch großartig finden, aber in Afrika sind es eben Trommeln und wo anders Posaunenchöre. Und die Architektur zeigt das auch – Gotik, Barock –, also da wurde ja immer in das Christentum inkulturiert, was auch in der Zeit auf der Tagesordnung war. Da gibt es natürlich Grenzen, aber Hip-Hop im Gottesdienst halte ich gar nicht für ein Problem.

    Birke: Ich möchte Sie jetzt mal provozieren, Bischöfin Käßmann. Brauchen wir überhaupt Ostermontag noch als Feiertag, wenn die religiöse Bedeutung dieses Festes in einer breiten Bevölkerungsschicht überhaupt nicht mehr bewusst ist?

    Käßmann: Die Ökonomisierung, auch der Feiertage, die finde ich wirklich brutal in unserer Welt. Also, eher bin ich bereit, dass wir alle sagen, wir verzichten auf einen individuellen Urlaubstag als auf gemeinsame Feiertage. Und damit will ich zu allererst mal ganz säkular argumentieren. Dass eine Gesellschaft gemeinsame freie Tage hat, das ist für eine Gesellschaft wichtig und gut. Wir können uns darauf verlassen, an diesem Tag können wir uns mit Freunden treffen, wir haben gemeinsame Zeit für Familie, für uns selbst – und zwar alle gleichzeitig in einem Land. Für Ostern – den Ostersonntag – an sich ist mit Sicherheit diese Feiertagsregelung mit dem Ostermontag so entscheidend nicht, aber dass die beiden höchsten christlichen Feste im Jahr – Ostern und Weihnachten – in unserer Gesellschaft besonders herausgehoben sind, indem Sonntag und Montag beziehungsweise 1. und 2. Weihnachtsfeiertag frei sind, das halte ich für unsere Gesellschaft schon für einen wichtigen Erinnerungsakt, selbst für die, die nicht mehr zur Kirche gehören.

    Birke: Also fast mehr aus gesellschaftlichen denn als aus religiösen Gründen?

    Käßmann: Nun, in der Argumentation heute, um sich durchzusetzen, müssen Sie fast bei Feiertagen erst einmal auch von der Gesellschaft her argumentieren. Beim Ostermontag ist es natürlich so: Der Sonntag ist der Tag der Auferstehung, den wir wirklich feiern. Ich möchte den Ostermontag trotzdem nicht preisgeben, weil dieses Fest ganz besonders herausgehoben ist und auch in diesem Ritual vom letzten Abendmahl Gründonnerstag – Karfreitag als den Tag der Kreuzigung, wo das Leiden im Mittelpunkt steht – Karsamstag, dieses Schweigen, diese Stille, die ja kaum eingehalten wird – und dann dieses Jubelfest. Und dazu gehören eigentlich zwei Tage, wenn Sie richtig feiern und sich freuen, und Auferstehung wäre ja ein Anlass. Aber schon die Stille am Karsamstag wird ja kaum eingehalten.

    Birke: Bischöfin Käßmann, Sie haben ja eben gesagt, dass Sie sich durchaus vorstellen könnten, einen Urlaubstag dann zu streichen, wenn schon keinen Feiertag. Heißt das - kann ich daraus schließen, dass Sie durchaus Verständnis haben für die Forderungen, auch vor allem von unionsgeführten Bundesländern und Ministerpräsidenten aus Kreisen der CDU/CSU, die immer wieder sagen: Wir brauchen längere Arbeitszeiten, wir müssen auch die Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst verlängern?

    Käßmann: Ach, wissen Sie: In einzelne politische Debatten mische ich mich gar nicht ein. Dann werden die Gewerkschaften wieder sagen: Das zerstört Arbeitsplätze. Ich bin gar nicht die Wirtschaftspolitikerin, die das beurteilen kann. Ich sage nur: Einer Gesellschaft tut es gut, gemeinsame Ruhezeiten zu haben. Und deshalb werde ich energisch dafür kämpfen, dass die Sonntage frei bleiben vom Einkaufsterror – sozusagen – und nun alles öffnen, und dass wir gemeinsame Zeiten haben in einer Gesellschaft, in denen freie Zeit ist vom normalen Alltag. Ich finde ein Leben eigentlich entsetzlich, das keinen Rhythmus mehr kennt – von Sommer und Winter, der ist ja fast aufgegeben, da man kann mitten im Winter in den Sommer reisen, von Tag und Nacht, Sie können es Tag und Nacht hell sein lassen und eben auch von Feiertag und Alltag. Und solche Unterscheidungen, solche Rhythmen, tun gut. Sie sind gut für das Leben. Für mich ist so ein Beispiel immer das Burn-Out-Syndrom bei Managern. Das entsteht nämlich, wenn zwischen Schaffen und Ruhe kein Rhythmus mehr da ist. Und ich denke, eine ganze Gesellschaft kann kollektiv so einem Burn-Out-Syndrom unterliegen.

    Birke: Nun, da unterliegt unsere Gesellschaft momentan einem anderen Syndrom, nämlich dem Reform-Syndrom und vor allen Dingen eben dem Leiden unter einer – was als soziale Ungerechtigkeit kritisiert wird – Erscheinung. Teilen Sie den Eindruck, vor allen Dingen hier von Gewerkschaften, dass diese Reformen der Agenda 2010 sozial unausgewogen sind?

    Käßmann: Nun wird niemand bestreiten, dass Veränderungen notwendig sind, gerade mit Blick auf den Kindernachwuchs. Gerade kamen ja die Zahlen diese Woche, dass der Nachwuchs wieder auf dem Tiefststand ist seit Gründung der Bundesrepublik, dass die Geburtenrate die niedrigste ist, die wir je gezählt haben. Insofern sind Reformen notwendig. Aber ich glaube, dass der Reformbegriff inzwischen negativ geworden ist für die meisten Leute. Und das ist eigentlich das Trauerspiel, weil eine Reform soll ja positiv sein, soll ja Veränderung nach vorn bedeuten. Und der ganze Reformbegriff ist jetzt negativ besetzt, weil die Menschen Angst haben, Angst vor der Zukunft. Und es gibt beispielsweise Frauen mit einer Mindestrente, für die die Praxisgebühr und ähnliches richtig existenzgefährdend wird. Und ich denke, dass die Ausgewogenheit zwischen den ganz kleinen Leuten und den ganz kleinen Einkommen und den ganz großen Leuten und den ganz großen Einkommen, dass die tatsächlich ins Schlingern gerät. Und das ist für eine Gesellschaft schlecht, die ja auch angewiesen ist auf den sozialen Frieden im Land.


    Birke: Frau Käßmann, wo würden Sie denn aus Ihrer Praxis als Seelsorgerin ansetzen, wenn Sie jetzt noch mal Korrekturen an den angeleierten Reformen vornehmen müssten?

    Käßmann: Der biblische Begriff von Gerechtigkeit sagt, der Maßstab ist die Situation der Schwächsten im Land. Und da würde ich zwei Maßstäbe setzen. Das eine sind wirklich die Alten. Ich denke, Menschen im Alter müssen so abgesichert sein, dass sie wirklich auch gut im Alter leben können und nicht in Angst um ihre Versorgung. Und dann würde ich ansetzen bei den Jüngsten, nämlich bei den Familien. Und das halte ich in unserem Land wirklich für einen Skandal – es ist ein abgehalfterter Begriff –, aber es ist ein Skandal, dass nun gerade Kinder in diesem Land zu den Schwächsten gehören, obwohl wir so wenig Kinder haben. Mehr als eine Million sind Sozialhilfeempfänger von den Kindern heute im Land. Und da müssten wir eigentlich investieren, denn das ist die Zukunft. Und die Leute haben nur – sage ich mal – Engagement und Lust zum Kind, wenn sie auch wissen, das hat Zukunft. Wenn Sie heute vier Kinder großziehen, dann ist die finanzielle Belastung enorm. Und ich finde schon, es sollten dann die Kinderlosen auch solidarisch mit denen sein, die Kinder haben, denn das ist unser größtes Zukunftspotential. Zu allererst würde ich sehen: Wie geht es unseren Kindern im Land, wie kann man da entlasten, dass Menschen auch wirklich Kinder großziehen können in Verhältnissen, die sie stark machen für die Zukunft.

    Birke: Sie sprechen ja als Mutter aus eigener Erfahrung, Bischöfin Käßmann. Kann man das zum Beispiel über ein spezielles 'Kindersteuersplitting’ statt eines Ehegatten-Splittings dann vielleicht auf den Weg bringen?

    Käßmann: Nun bin ich auch keine Steuerexpertin, aber das, sagen viele, sei ein Weg. Dazu gehört sicher auch, dass es eine Möglichkeit für Frauen gibt, berufstätig zu sein und Kinder zu erziehen. Es sind ja gerade die Alleinerziehenden, die so ungeheuer belastet sind. Dann würde ich viel stärker den Unterhalt bei den Vätern einklagen. 800.000 Männer in diesem Land zahlen keinen Unterhalt für ihre Kinder – das ist beispielsweise ein Problem. Und ich finde es weiterhin merkwürdig, dass ein Kindergartenplatz Geld kostet, ein Studienplatz aber nicht. Dabei müsste man doch gerade sagen: Mindestens ein Jahr sollte jedes Kind vor der Schule im Kindergarten oder in einer Kindertagesstätte sein, um Sozialkompetenz zu erlernen, Einfügen in einer Gruppe, Sprachfähigkeit, damit dann in der Grundschule diese Probleme gar nicht erst behoben werden müssen, mit denen die Grundschule enorm belastet ist. Also, wir müssen investieren in Kinder und in Schule.

    Birke: Die Kirchen sind ja gerade im Bereich von Kindergärten auch sehr stark engagiert. Ich glaube, katholische und evangelische Kindergärten zusammen genommen, stellen etwa 50 Prozent aller öffentlich zugänglichen Kindergärten. Inwieweit kommen Sie hier in finanzielle Schwierigkeiten, da doch auch die Kirchensteuereinnahmen stark zurückgehen?

    Käßmann: Wir sind ganz stark am diskutieren natürlich, wie das mit den Kindertagesstätten bei uns weiter geht. Wir haben als Landeskirche rund 500 allein in Trägerschaft und werden natürlich sehen müssen, wie wir einerseits investieren und andererseits auch angemessen bezahlen. Wir sagen jetzt, dass Erzieherinnen immer mehr leisten sollen – ja, sogar ein Bildungsauftrag wird jetzt auf die Kindertagesstätten nach der PISA-Studie sozusagen übertragen. Dann müssten wir aber die Erzieherinnen und hoffentlich auch mehr Erzieher besser ausbilden, beispielsweise, wie in anderen Ländern auch, an Fachhochschulen oder Hochschulen. Nur, dann müssten wir sie auch besser bezahlen. Das alles wissen wir. Und gleichzeitig auch als Kirche, das will ich gleich sagen, haben wir eben auch Finanzschwierigkeiten, wissen nicht, wie finanzieren. Da gibt es eine Möglichkeit, denke ich: Nicht alle behalten in Trägerschaft, aber die, die wir in evangelischer Trägerschaft haben, dann wirklich zu 'Leuchtturmbeispielen’ machen, so ausstatten, wie wir das verantworten können.

    Birke: Sind Sie gezwungen, aufgrund der finanziellen Engpässe Kindertagesstätten und Kindergärten zu schließen?

    Käßmann: In unserer Landeskirche bis jetzt nicht, aber ich kann nicht garantieren, dass es dazu nicht auch kommen würde, weil wir natürlich in einer dramatischen Situation sind, das muss ich wirklich sagen. Gerade die Steuerreform, die wir ja grundsätzlich bejahen, schlägt sich natürlich sofort auf die Kirchensteuer nieder, weil Kirchensteuer gekoppelt ist an Einkommensteuer. Und dadurch ist unsere Landeskirche in diesem Jahr konfrontiert mit 60 Millionen Mindereinnahmen. Das ist enorm und hat im Moment schon zu einer Wiederbesetzungssperre und zu bestimmten Haushaltssperren geführt, so dass wir überlegen müssen: Wollen wir versuchen, rasenmähermäßig zu sparen, überall so ein bisschen, oder sagen wir: Hier muss es Einschnitte geben, damit das andere wirklich gut verantwortbar läuft. Und ich denke, das kann auch im diakonischen Bereich natürlich so sein, dass wir sagen: Hier müssen wir schließen, damit wir insgesamt nicht unter das Niveau kommen, auch in der Bezahlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das wir verantworten können.

    Birke: Nun ist die Steuerreform der eine Grund für den Ausfall von Kirchensteuer-Einnahmen, der andere ist sicher auch der Mitgliederschwund, denn ich glaube, in den letzten drei Jahren hat sich die Zahl der evangelischen Christen in Deutschland um 800.000 verringert. Was tun Sie, um die Leute bei der Kirche zu halten?

    Käßmann: Also, es sind zwei Faktoren, die uns besonders treffen. Das eine ist natürlich die demographische Entwicklung, das muss ganz klar gesagt werden, die trifft uns mehr als die Austritte – dass es eben weniger Menschen gibt, die jung in der Kirche sind und dann auch in die Kirche hineinwachsen. Das andere ist, dass die Austritte gerade in dem Bereich der gut verdienenden jungen Männer sind, das muss ganz klar gesagt werden – Männer zwischen 25 und 35, die austreten. Die trifft es nämlich am stärksten, die treten aus, wenn sie erst mal ihren Gehaltszettel sehen und denken: Warum soll ich für meine Kirchenmitgliedschaft einen Beitrag leisten? Also, wir werben mit dem, was die Kirche tut, und die Mitgliedsstudie hat gezeigt, dass die Menschen besonders schätzen die Begleitung in der Riten-Passage, in den großen Übergängen – Taufe, Trauung, Konfirmation, Bestattung natürlich –, dass da die Kirche stark ist. Das muss qualitativ so gut sein, dass, wenn eine Beerdigung, die eine existentielle Situation ist, gehalten wird, dass die Menschen, die kommen, sagen: Das hat mich berührt, das war angemessen – das, was in dieser Situation nur der Pastor oder die Pastorin so kann. Also ich denke, erst einmal muss die eigene Qualität dessen, was wir tun, stimmen. Und es muss plausibel sein, wofür die Kirche da ist. Sie ist nicht ein Zusatzprodukt, sondern Christ sein lebt sich in einer Gemeinschaft. Das ist eben eine Gemeinschaftsreligion und keine individualistische. Ich halte das nicht für aussichtslos, ich bin da nicht so pessimistisch. In unserer Wiedereintrittsstelle, die die Hannoversche Landeskirche in der Buchhandlung an der Marktkirche hat, sind in drei Jahren tausend Menschen wieder eingetreten. Also, wir bemühen uns für das Anliegen, die Kirche plausibel machen, warum, und als Kirche auch mit dem, was wir sind – gut sein, im besten Sinne – und die Botschaft in der Sprache von heute den Menschen weitergeben, das Evangelium so erzählen, dass Menschen sagen: 'Das geht mich was an’. Das ist, glaube ich, der Faktor, den wir stärken müssen.

    Birke: Frau Käßmann, es mag verwegen klingen, wäre es aber nicht denkbar, dass man über ganz neue Finanzierungsmöglichkeiten mal wirklich sich Gedanken macht, dass man vielleicht die Kirche auch als Serviceinstitution sieht und auf die Kirchensteuer verzichtet und sagt, wenn jemand eine Beerdigung, eine Taufe – Sie haben es eben angesprochen – möchte, dann muss er auch einen Servicebeitrag dafür bezahlen?

    Käßmann: Also, darüber wird im Moment ja auch in der Kirche ungeheuer viel diskutiert. Das eine ist, dass wir ja Sponsoring-Modelle haben und jetzt Stiftungen gegründet werden, dass da kreative Formen da sind, neue Gelder zu akquirieren. Wir haben beispielsweise so ein Drei + Eins – Modell, wenn Gemeinden über Stiftungen oder anderes Gelder einwerben, dann geben wir den vierten Euro jeweils dazu. Das sind 6,4 Millionen Euro, die in den ersten zwei Jahren dieses Systems dazugekommen sind. Und dann haben sie ein Kapital, aus dem sie über die Zinsen besondere Dinge, vielleicht ein Viertel Pfarrstelle oder eine Jugendarbeiterin oder ähnliches finanzieren können. Also, da ist Kreativität da. Aber das ist das Spielbein. Die Kirchensteuer ist schon immer noch unser Standbein. Wenn Sie das ändern wollten, müssten Sie 23 Landeskirchen, 16 Bundesländer und alle katholischen Diözesen zusammen zu einem neuen Modell bringen. Das wäre schwierig. Und dann wäre auch die Frage, wie könnte das aussehen, damit es gerecht ist. Da gibt es immer mal wieder Berechnungen – was ist gerechter, beispielsweise zahlen ja gerade die Rentner nichts, weil sie eben nicht zur Steuer veranlagt werden. Also, so lange es kein plausibles, wirklich besseres Modell gibt, wäre es – glaube ich – ein katastrophales Spiel, die Kirchensteuer einfach aufzugeben. Aber darüber nachgedacht wird viel, ja.

    Birke: Hätten Sie denn ein Modell?

    Käßmann: Nein, ich bin keine Finanzexpertin. Wenn mir eins einfallen würde, würde ich mich energisch dafür einsetzen.

    Birke: Eine Möglichkeit aber zumindest jetzt, wenn der Schuh drückt, ist ja auch, um Geld einzusparen, indem man stärker kooperiert. Nun hat die VELKD, also die andere, die Konkurrenzorganisation innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands, die Hand zur Kooperation ausgestreckt. Warum ist es so schwierig, dass sich hier im Rahmen des Christentums der evangelischen Christen eine Kooperation leicht verwirklichen lässt?

    Käßmann: Nun sind wir ja einen großen Schritt vorangekommen. Die VELKD – das sind eben die acht lutherischen Kirchen innerhalb der 23 evangelischen Landeskirchen noch mal eine eigene Kirche, einen eigenen Verband bilden. Das können Sie außen kaum noch jemandem erklären. Sie können auch die Landeskirchengrenzen kaum jemandem erklären: Schaumburg-Lippe hat gut 60.000 Mitglieder, die Hannoversche Landeskirche 3,2 Millionen, aber beides sind Landeskirchen mit einem Bischof oder einer Bischöfin. Das sind die Grenzen sozusagen, die aus dem Wiener Kongress entstanden sind – uralte Traditionen. Wenn Sie darangehen, gibt es einen Aufschrei. Das wäre so ähnlich, als ob Sie sagen: Lassen Sie uns das Saarland als Bundesland auflösen. Das sind schon schwierige Prozesse. Ich bin immer etwas ungeduldig mit diesen Strukturen, aber ich kann nur sagen: Wir sind dran. Es hat sich in den letzten zwei Jahren mehr bewegt als in 50 Jahren vorher. Das muss, glaube ich, schon gesagt werden. Görlitz hat sich mit Berlin-Brandenburg zu einer Kirche zusammengeschlossen, die Kirche beispielsweise von Magdeburg, die Kirchen von Sachsen und Thüringen versuchen sich zusammenzuschließen zu einem Verbund, die Vereinigte evangelische lutherische Kirche und die EKD – die Evangelische Kirche Deutschlands – verabreden jetzt, das zusammen zu tun, was sie zusammen tun können und nur noch zu trennen, was wirklich getrennt sein muss. Es ist aber auch Zeit, dass sich was tut, das muss ich ganz ehrlich sagen, weil wir keine Kraft, Energie und auch Geld mehr haben, uns in Strukturen zu verschleißen.

    Birke: Wenn es schon schwierig ist, wie Sie es gerade geschildert haben, Frau Käßmann, sich auf der Ebene der evangelischen Christen zu koordinieren und zusammenzuschließen, ist das doch auch kein gutes Omen für die Ökumene mit den Katholiken, oder?

    Käßmann: Ja, das sind aber zwei doch sehr verschiedene Dinge, denke ich. Also, 1973 gab es die Nürnberger Concordia, und da wurde beschlossen dass sich fast alle evangelischen europäischen Kirchen inzwischen gegenseitig die Ämter anerkennen, das Abendmahl miteinander feiern können, die Taufe anerkennen und sich gegenseitig als Kirche anerkennen, da sind die Evangelischen im Kern – jetzt abgesehen von diesen traditionellen Strukturen – sehr weit gekommen. Ich denke, der größte Schmerz mit der katholischen Kirche ist weiterhin, dass wir als Evangelische aus katholischer Perspektive nicht als Kirche im vollen Sinne anerkannt werden können und deshalb das gemeinsame Abendmahl nicht möglich ist. Also, das sind doch stärker die theologischen Fragen und nicht so sehr die strukturellen. Ich denke, auch da hat sich natürlich viel bewegt. Also, in der Zeit meiner Mutter war es noch schwierig, wenn ein Katholik eine Protestantin heiratete oder umgekehrt. Heute in den Gemeinden, würde ich sagen, ist sehr deutlich, dass uns mehr verbindet als uns trennt. Und gleichzeitig bleibt diese Auseinandersetzung – die theologische: Wir als Protestanten sagen, selbstverständlich sind wir Kirche, wir sind auch Erbe in der alten Kirche, unser Amt ist nicht weniger Amt als das katholische. Und bei aller Freundschaft – sage ich mal – bleiben diese Differenzen, und wie gesagt, der Schmerz der Trennung beim Abendmahl. Das ist beim Berliner Kirchentag letztes Jahr ja auch noch einmal sehr offensichtlich geworden.

    Birke: Könnte ein anderer Papst als der jetzt amtierende Papst vielleicht Bewegung rein bringen?

    Käßmann: Ach, da wird ja zur Zeit viel spekuliert. Ich denke, diese Spekulationen überlasse ich mal den Katholiken.

    Birke: Frau Käßmann, es geht ja auch um das Zusammenleben mit den Muslimen, gerade nach den Terroranschlägen in Madrid. Erwarten Sie eigentlich jetzt als evangelische Christin ein klareres Distanzierungsbekenntnis der moderaten Muslime von den radikalen, den extremen, den terroristischen Elementen?

    Käßmann: Das wäre sehr wichtig, denke ich, weil: Was wir schon spüren ist doch das, was die Terroristen anrichten, auch zu einem Grundverdacht gegenüber allen Muslimen führt. Und das ist für das Zusammenleben der Religionen im Moment eine schwere Belastung, weil ich denke, wir sind gerade in den letzten Jahren dazu gekommen, zu sagen: Wir schaffen es doch mit Respekt vor der anderen Religion in einem Land zusammenzuleben und wollen auch im Dialog der Religionen vorankommen. Also, der Terror zerstört sehr viel, was als Pflänzchen gerade keimt. Und eine ganz offensichtliche Distanzierung der Muslime von diesem Terror würde – denke ich – sehr viel helfen, weil ich schon in vielen Gesprächen spüre, dass so eine Generalangst auf einmal auch da ist vor Muslimen, die ja zu 99 Prozent friedliche Menschen sind. Aber das Prozent, das da mit Gotteskriegertum und ähnlichem agiert, schürt eine Generalangst. Das ist, denke ich, im Moment wirklich eine zerstörerische Kraft.

    Birke: Ist denn in einer solchen Situation – diese ganze Kopftuchdebatte, die ja auch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geführt wird – nicht kontraproduktiv?

    Käßmann: Sie ist in gewissem Sinne kontraproduktiv, weil es kaum möglich ist, diese Debatte von der anderen zu trennen. Also, auf diese Kopftuchdebatte wird jetzt alles projiziert, was an Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Muslimen, zwischen Christen, Juden und Muslimen und dann der Generalverdacht gegenüber Religion an sich von den ganz Säkularen oder von den Atheisten vorhanden ist. Also, dass Berlin sozusagen mit dem Kopftuch gleich alle religiösen Symbole aus der Schule schmeißen will, ist so kontra unserer Tradition von Religion und Staat in einem guten produktiven Verhältnis gedacht, dass da das Kind tatsächlich mit dem Bade ausgeschüttet wird. Wir sind kein laizistischer Staat wie Frankreich und haben eigentlich ja ein gutes Verhältnis von Staat und Religion. Ich denke, das hat es in Deutschland noch nie so positiv und in einem guten Gesprächsklima gegeben, und auch in einer Kooperation beispielsweise, wie in Kindergärten, Altenheimen, Krankenhäusern oder anderes mehr – zwischen Kirche und Staat oder auch überhaupt von Religion und Staat. Das finde ich schwierig, und gleichzeitig möchte ich sagen dürfen, dass für mich das Kopftuch eben nicht irgendein religiöses Symbol ist, sondern eines, das steht für die Ungleichheit und die klare Ungleichbehandlung von Mann und Frau, für ein bestimmtes Menschen- und Rollenbild von Mann und Frau, und ich es deshalb nicht in der Vorbildfunktion bei einer Beamtin sehen will. Wenn ich das tue, komme ich aber immer gleich in den Verdacht, eigentlich antimuslimisch zu sein oder gegen den interreligiösen Dialog. Also, diese Debatte ist durch die Seiteneffekte ganz schön belastet, ja.

    Birke: Hätten Sie sich denn gewünscht, dass es nicht jetzt Ländersache wäre, sondern dass wir eine einheitliche Regelung in der ganzen Bundesrepublik hätten?

    Käßmann: Das wäre wesentlich besser gewesen, denke ich, weil wir jetzt den Streit in jedem Bundesland einzeln haben, und wenn es so weitergeht, werden einzelne Bundesländer den Streit auf jede Schule einzeln übertragen. Das ist nicht hilfreich. Gerade um das zu vermeiden, eine solche Debatte, die nicht unbedingt konstruktiv in allen Fällen verläuft, wäre es wesentlich leichter gewesen, eine Generalentscheidung zu haben. Da kann man dann sagen: 'Ich halte die für falsch’. Aber es wäre einfacher gewesen, anstatt nun Bundesland für Bundesland und nachher vielleicht Schule für Schule das durchzuackern.

    Birke: Frau Käßmann, wir danken für dieses Gespräch.