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Koranforscherin Neuwirth
"Christen können von muslimischen Mitbürgern lernen"

Gewalttätige Islamisten verbreiten Angst und Schrecken in Europa. Die Rechnung der IS-Dschihadisten scheint aufzugehen. Dem will die Berliner Koranforscherin und Arabistin Angelika Neuwirth ein differenziertes Islambild entgegensetzen.

Von Henning Klingen | 05.01.2016
    Die Preisträgerin Angelika Neuwirth steht in einer Bibliothek der FU Berlin vor dicht gefüllten Bücherregalen.
    Die Berliner Koranforscherin und Arabistin Angelika Neuwirth (picture-alliance / dpa / Privat)
    Der Ruf nach einer historisch-kritischen Lektüre des Koran und seiner Quellen, ja der historisch-kritischen Rekonstruktion des Islam insgesamt, ist nicht neu. Wo immer der Koran als unantastbarer Text sakralisiert wird, wo immer von "dem" Islam die Rede ist, als wäre er ein einheitliches religiöses Gebilde, da werden Stimmen laut, die nach Differenzierung rufen. Angelika Neuwirth ist eine von ihnen. Die Inhaberin des Lehrstuhls für Arabistik an der Freien Universität Berlin, gilt seit Jahrzehnten als führende Koranforscherin in Deutschland – und sie erfreut sich zugleich eines hohen Ansehens auch in der muslimischen akademischen Welt. Seit knapp 10 Jahren verfolgt sie mit dem Projekt "Corpus Coranicum" das umfangreiche Projekt einer Erschließung, Übersetzung und historisch-kritischen Auslegung des Korans.
    "Was wir tun, ist die Wiederaufnahme einer 100 Jahre angehalten habenden aber inzwischen leider überhaupt nicht mehr praktizierten Lektüre. Nämlich zu fragen, wie eigentlich dieses Ereignis des Auftretens des Propheten Mohammed, das ja nicht nur mit einem Buch geendet hat, dem Koran, sondern auch mit einer Gemeinde, die sich alsbald auch qualifiziert hat als eine politisch mächtige Gemeinschaft, die im Stande war, die gesamte Landkarte des Nahen Ostens und darüber hinaus zu verändern. Uns geht es darum, wie ist zu erklären, dass aus diesem historischen Ereignis ein solcher Paradigmenwechsel erreicht werden konnte."
    Werben für eine historische Deutung des Korans
    Das bedeutet, einzutauchen in eine historische Szenerie, die so gar nicht zur heilen, ja heiligen Vorstellung eines ungebrochenen religiösen Weltverständnisses passt: Der Islam, das war von Beginn an eine komplexe Bewegung mit zahlreichen Denkschulen und politisch-gesellschaftlichen, ja militärischen Verflechtungen im "Denkraum Spätantike", wie es Neuwirth ausdrückt. Anders gesagt: Wer sich auf den Islam einlässt, muss sich gleichermaßen auf die Schrift, also den Koran, die arabische Kultur, aber auch die politische Entwicklung der ersten Gemeinden einlassen.
    "Ein ganz wichtiger Faktor ist natürlich dabei, dass es dieser Figur, die wir mit dem Propheten Mohammed identifizieren, gelungen ist, eine Gesellschaft, die weitgehend säkular war, um 180 Grad zu drehen zu einer Gesellschaft, die sich einer höheren Bestimmung bewusst war; die ihr Leben nicht als erfreuliche Frist des Genusses zu verstehen begann, sondern sich selber als ein Teil eines weltgeschichtlichen Ereignisses begriff."
    Solche Zugänge zum Islam und zum Koran sind gerade unter Muslimen umstritten. Ihre Hoffnungen setzt Neuwirth jedoch auf eine junge Generation muslimischer Intellektueller, die sich weigern, das einfache Schwarz-Weiß-Muster "Vor dem Islam war Dunkelheit – Mit dem Islam kam das Licht" weiter zu tragen.
    "Man hat eine gewisse Abwehr gegen diese historische Methode in der älteren Generation zumindest. Und man muss lange werben, warum man das trotzdem machen lassen sollte. Denn es kommt ja ein viel größerer Horizont heraus. Und es ist eine Bereicherung, das sehen viele ein. Und natürlich liegt auch vielen daran, ihr eigenes sehr schlechtes Image durch seriöse Brückenschläger auf der anderen Seite verbessern zu können."
    Der Koran als sakrale Brücke
    Der Ansatz, den Neuwirth mit ihrer Methode verfolgt, stammt aus einer alten, fast 180-jährigen Tradition jüdischer, von Abraham Geiger begründeten Koranforschung. Geiger hatte 1833 mit seiner Studie "Was hat Mohamed aus dem Judentume aufgenommen?" den Startschuss zu dieser Form historisch-kritischer Lektüre gegeben. Und so wundert es auch nicht, wenn Neuwirth zahlreiche Querverbindungen etwa zwischen Islam und Judentum ausmacht:
    "Man sieht im Grunde sich auf einer ganz bekannten Bahn wandeln, nämlich auf der Bahn der Israeliten, die unter Mose ganz ähnliche Geschicke erlebt haben. Man wächst durch die Psalmen und durch diese Psalmen haben sie sich dann sozusagen selber rekonstruiert als neues Volk Gottes in den Fußspuren der Israeliten."
    Der Koran ist laut Neuwirth somit nicht historisches Zeugnis dieser Geschichte, sondern in erster Linie ein sakraler Text, ein einziges großes Gebet, in dem Gott selbst Sprecher ist – und insofern nicht zu vergleichen etwa mit der christlichen Bibel:
    "Was auch ganz wichtig ist: Dass der Koran ja nicht wie die Bibel die 'Heilige Schrift' ist, sondern er ist zugleich da, wo Christus im Christentum steht. Das heißt, der Koran ist der verbalisierte Logos. Er ist diese sakrale Brücke, die jedem jederzeit offen steht. Das ist ein sehr starker Unterschied."
    Anders gesagt: Man kann, ja muss den Koran mit den Mitteln moderner Literaturwissenschaft analysieren und dekonstruieren – um ihn dann als das, was er ist, wieder zu entdecken: als Gebetstext, als Hymnus. Und nicht als Gesetzbuch, das es 1:1 zu exekutieren gilt. So kann sich auch für christliche Leser und Zeitgenossen jener "Mehrwert" neu erschließen, der laut Neuwirth in der islamischen Tradition schlummert:
    "Wir könnten sehr von unseren muslimischen Mitbürgern lernen. Sie haben eine ganze Menge Werte noch zu Verfügung, die bei uns schon in Vergessenheit geraten sind. Und noch dazu haben sie diesen Zugang zum Sakralen: Sie können beispielsweise ohne rot zu werden sagen, dass sie zu ihrem Gebet gehen und dann wiederkommen. Das würden wir nur bei Mönchen als natürlich anerkennen."
    Ihre Hoffnungen setzt Neuwirth insofern auf einen aufgeklärten "Euro-Islam"; einen Islam, der auch für Christen interessant ist, der Christen spirituell, religiös, aber auch intellektuell herausfordert. Im positiven Sinne. Denn nur dann, wenn man sich auch intellektuell "auf Augenhöhe begegnet", lassen sich religiöse Konflikte dauerhaft einhegen, so Neuwirth:
    "Wir hoffen natürlich, dass die Liberalität, die bei uns an Universitäten herrscht, dass die eine Gegenbewegung gegen Tendenzen darstellen wird, die verlangen, weiterhin bspw. Historisierung zu verteufeln. Das würde ich als einen Euro-Islam bezeichnen. Und ich würde sagen Euro-Islam ist da, wo man auch die Christen mal herausfordert – ich finde, unsere Differenzen sind spannend. Und wenn man sich auf Augenhöhe begegnet, sind die ja auch nicht gefährlich. Das Schlimme ist nur, wenn man den anderen von vornherein als nicht so interessant oder zurückgeblieben klassifiziert."