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"Korrekturen"?

"Europa zwischen Teilung und Aufbruch" – das ist der Titel des Geschichtsforums, das am Pfingstwochenende in Berlin mit großem interdisziplinären Programm über die Bühne ging. Auch das Maxim-Gorki-Theater war maßgeblich dabei.

Von Karin Fischer | 01.06.2009
    Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, brachte es auf den Punkt:

    O-Ton Krüger: "Es gab damals Tage, an denen Jahre vergingen."

    Jetzt sind es also schon 20, und auf den zahlreichen Podien sollte es nicht darum gehen, wie es damals war, sondern: wie die Geschichte heute erzählt wird. Es ging um die Narrative, um die "Aufarbeitung der Aufarbeitung". Es gibt einen Boom von Geschichtsdokus im Fernsehen, aber auch den nachweisbar fehlenden Zugriff auf brisante Themen in außerschulischen Bildungseinrichtungen oder Gedenkstätten. Dabei steht die DDR-Geschichte im Fernsehen für Ostdeutsche in eklatantem Widerspruch zur privaten Familienerzählung. Aber dieses "erinnerungspolitische Feld", wie Geschichtswissenschaftler sagen, ist noch gar erschlossen. Haben also doch wieder nur die Sieger die Geschichte geschrieben? Die Kritik an der Aufarbeitung kommt vorerst aus dem angelsächsischen Bereich, sie lautet: Hunderte von Forschungsarbeiten zur SED-Diktatur hätten eine Verengung der Perspektive erzeugt, durch Konzentration auf die Akten und die tendenzielle Überschätzung des Widerstands. Statt einer wirklichen Vielfalt der Stimmen herrsche die Rückprojektion moralischer Vorbehalte auf die Geschichte vor, und mithin ein einseitiges Bild der "Stasi-Diktatur". Und ist nicht überhaupt das Bild des Mauerfalls ein falsches Bild, weil immer nur vom Westen aus gesehen? Wer erforscht das Leben der Anderen? Joachim Gauck formulierte auf die Frage: Was fehlt? Eine andere, poetischere Verlustgeschichte:

    O-Ton Joachim Gauck: "Etwas, was ich eigentlich nur am ehesten Dichtern zutraue. Ich habe mich manchmal gefragt: woher kommt eine Traurigkeit in mir nach so vielen Siegen? Wir haben alles gewonnen! ... . Und trotzdem gibt es in manchen dieser Menschen eine ganz tiefe Traurigkeit. Manchmal denk ich: ich war früher unterdrückt, aber meine Seele konnte fliegen wegen der Sehnsucht. Puh ... Das macht die ganz stark. Aber als du angekommen warst, als du gewonnen hattest, da war die Sehnsucht weggeflogen."

    In Berlin war es die Rolle der Kultur, die Stimmenvielfalt herzustellen. "Korrekturen" hat das Maxim Gorki Theater seine ganze Spielzeit überschrieben. Die vermeintliche historische Wahrheit wird um die Dichtung und den subjektiven Blick des Theaters ergänzt, "ungehörte" Stimmen kommen zu Wort. Werner Bräunigs "Rummelplatz", ein mit der Gegenwart mehrfach verschränktes Bild der frühen DDR, ergibt zusammen mit Inge und Heiner Müllers "Die Korrektur" und Thomas Freyers Text "Korrekturen 09" zusammen auch eine theatrale Reflexion des Arbeitsbegriffs, die so heute nur im Theater statt findet.

    Die Mutter: Seit er tot ist, mein Mann, sprech ich nicht mehr von ihm, zwei Jahre schon. Ich arbeite, ich lebe so, ja ... . Ich hab überlegt auszuziehen, irgendwo anders zu arbeiten, was anderes zu machen. Aber von vorn anfangen – wieder? Ich will das nicht noch Mal, ich kann das nicht mehr, von vorn anfangen.

    Die Tochter: Du fragst dich, ob das auch Arbeit war, das was deine Mutter gemacht hat oder dein Vater. Du kommst nach Hause, drei Mal die Woche, putze die Zähne wie ein ganz normaler Mensch. Versuche, nicht an die nächste Schicht in der Bar zu denken, es ist ja nur Arbeit. Arbeit ... . ich weiß gar nicht ob das jemand braucht, was ich mache.


    Eine kleine Sensation war die szenische Lesung des Treffens von Nikita Chruschtschow mit Walter Ulbricht am 1. August 1961. In dem bislang unveröffentlichten Protokoll kommen die Genossen vom Möhren-Mangel und Kollektivierungsproblemen recht umstandslos auf den bevorstehenden Mauerbau:

    Ich bin der Meinung, den Ring sollten unsere Truppen legen, aber kontrollieren sollten ihn Ihre Truppen. Das muss vor Abschluss der Friedensverträge geschehen und würde den Druck erhöhen. Wenn man uns Krieg aufzwingt, wird es Krieg geben. – Wenn man uns Krieg aufzwingt, wird es Krieg geben.

    Lebendige Geschichte, vielfach gebrochen und intelligent aufgearbeitet in und durch Kunst. Das ist, was bleibt vom Geschichtsforum, das den Preis der Unübersichtlichkeit für die Stimmenvielfalt gern in Kauf nahm. Ob Harun Farockis "Videogramme" über die Revolution in Rumänien, in der die Kameras zu den Hauptakteuren zählen, oder die 15 000 Buchtitel, die in Form eines theatralen Staffellaufs quer durch Berlin vorgetragen wurden: Die Künstler liefern die ungewöhnlichen Perspektiven. Manchmal auch radikale, wie der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowitsch, der eine Alternative zur Europäischen Union erträumt:

    "Das "Freie Europa" sollte keine wirtschaftliche, fiskalische, bürokratische, militärische Einheit bilden, sondern ephemer, grenzenlos, formlos, anarchistisch und chaotisch sein. Das wäre ein gutes Antidot für die Verlangweiligung Europas, die wir jetzt haben."