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Korruptionsbekämpfung
Mit den wachsamen Augen der Öffentlichkeit

Die Spanier belassen es immer weniger bei der reinen Klage über die Korruption im Land. Im Internet haben sie das passende Werkzeug gefunden, um etwas gegen die Selbstbedienungsmentalität bei Amtsträgern und Wirtschaftsbossen zu tun.

Von Hans-Günter Kellner | 03.12.2014
    Der Nebenraum der kleinen alternativen Buchhandlung im Madrider Szeneviertel Lavapies ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Viele geprellte Bankkunden sind gekommen. Die Internetaktivisten von X-Net haben sich einen Namen gemacht mit der Beschaffung brandheißer Informationen aus der Bankenszene.
    "Wir haben wichtige Beweise. Einer der wichtigsten wurde uns von Angestellten bei Bankia zugespielt. Hier geht es um die Vorzugsaktien. Darauf steht: Diese Unterlagen dürfen auf keinen Fall für unsere Kunden sichtbar in unseren Filialen ausliegen."
    Das Dokument, auf das Sprecherin Simona Levi zeigt, soll belegen, wie die Madrider Sparkasse und spätere Bank Bankia Kleinsparer beim Verkauf von Beteiligungen getäuscht hat.
    Einige Wochen später sitzen die Internetaktivisten wieder in ihrem Büro in Barcelona vor dem Bildschirm und berichten per Videokonferenz, wie ihnen aus der Bevölkerung immer wieder Informationen zugespielt werden. So etwa der E-Mail-Verkehr des langjährigen Vorstandsvorsitzenden Miguel Blesa:
    "Diese E-Mails waren Auslöser für viele Korruptionsverfahren, die derzeit vor der Justiz verhandelt werden. Wir haben gemerkt, wie wichtig solche anonymen Insiderinformationen sind, dass wir das fördern und gleichzeitig unsere Quellen besser schützen müssen."
    Deshalb haben die Aktivisten von X-Net eine Art virtuellen Briefkasten eingerichtet, in dem Informanten anonym Dokumente über korrupte Machenschaften hochladen können. Die Anonymität soll eine Software garantieren, die sich Tor nennt. Simona rückt beiseite, ihr Kollege Sergio Salgado erklärt:
    "Das ist eine Art Browser, der die Identität des Nutzer versteckt. Vereinfacht gesagt, Du bist nicht mehr mit Deiner IP-Adresse im Internet unterwegs, sondern Deine Anfrage wird an einen anderen Router weitergesendet. Der schickt sie wieder an einen weiteren Router und so weiter. Das geht über so viele Stellen, dass die Identität des ursprünglichen Nutzers letztlich völlig anonymisiert wird."
    Allerdings sollen Geheimdienste auch Tor schon geknackt haben. Trotzdem trauen sich jetzt immer mehr anonyme Informanten, brisante Informationen weiterzuleiten. Zuletzt wurde so bekannt, dass Bankia allen Mitgliedern ihrer Aufsichtsgremien am Finanzamt vorbei Kreditkarten beschafft hatte. Die Ausgaben wurden unter dem Posten „Computerfehler" verbucht. Auch diese Papiere sind nun im Besitz des Untersuchungsrichters. Das Ziel der Aktivisten ist nicht, die Justiz zu ersetzen, betont Levi, sondern ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel:
    "Wir wollen mit dieser Straflosigkeit Schluss machen. Wir wollen die Justiz zwingen, selbst aufzuklären. Wir wollen mit unserer Arbeit neue Regeln aufstellen. Den Politikern muss klar werden, dass sie die Demokratie und die Institutionen erneuern müssen. Denn die Bürger überwachen sie jetzt."
    Ihr Versuch, mit der "Partei X" selbst in die Politik zu gehen, ist allerdings bei den Europawahlen kläglich gescheitert. Trotzdem hat die Internetszene in Spanien einen enormen Einfluss gewonnen - und inzwischen sogar mehrere eigene Zeitungen gegründet. Das Portal eldiario.es zum Beispiel fußt wie einige andere Netzzeitungen auf einem Genossenschaftsmodell. Juan Luis Sánchez ist stellvertretender Redaktionsleiter:
    "Internet hat einen neuen öffentlichen Raum geschaffen. Keine Zeitung kann es sich leisten, dort teilweise sehr intensiv geführte Debatten im Netz zu ignorieren. Vor zehn Jahren hätte die spanische Presse nie ein Bild des Königs vor einem toten Elefanten veröffentlicht. Vor zwei Jahren sah sie sich dazu gezwungen, schlicht, weil die Nachricht von der Elefantenjagd längst im Netz diskutiert wurde. Die Presse hätte sich lächerlich gemacht, hätten sie nicht darüber berichtet."
    Und gemeinsam mit anderen alternativen Publikationen hat auch eldiario.es einen eigenen anonymen virtuellen Briefkasten für Whistleblower eingerichtet. Denn viel wichtiger als neue Gesetze - so die Überzeugung der Aktivisten - sind wachsame Bürger.