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Kraftmeierei und Theatertragik

Luk Percevals Inszenierung von "Molière. Eine Passion" in Salzburg hat das Publikum mit seiner konsequenten Fäkalsprache verärgert. Dabei gilt es zu beachten, dass die so häufige Thematik der niederen menschlichen Triebe nur in geeignetes Vokabular übertragen wurde.

Von Karin Fischer | 31.07.2007
    Der Mann ist ein Tier. Thomas Thieme macht den Platzhirsch und lässt die Sau raus, er kriecht in die Hirne anderer Leute wie eine Schlange, er winselt wie ein Hund und wirkt zart wie ein Lamm mit seinem Fell aus weißem Schnee, das den Wolf in ihm aber nur zeitweilig verdeckt. Der Schnee, ewig rieselnde Seidenpapierstückchen, die Katrin Brack vom Bühnenhimmel fallen lässt, macht eher milde als kalt, man kann in ihm herum staksen und sich in ihn eingraben. "Unbehaust" nennt man wohl Leute, die in solchem Schnee wohnen. Thomas Thieme kauert darin und kriecht, er wichst und fickt und bettet sich in ihn wie in eine Sterbehülle, das Mikrofon umklammert, um sich darein zu verröcheln.

    Einen Stier hat Luk Perceval, der Regisseur, ihn genannt, und von der Faszination gesprochen, die der sterbende Stier auf den Zuschauer in der Arena hat. Der Vergleich stimmt, wenn dazu gesagt wird, dass hier der Stier den Kampf zum Tode mit sich selber ringt. Er stirbt am Hass auf die Menschen, an seiner Außenseiterrolle, am zu vielen Geld, auf dem er sitzt. Woran er aber am allermeisten stirbt: an der Liebe. Es kann so viel schneien, wie es will: sein Herz brennt.

    ""Liebe ist die Hostie, die dir zergeht auf der Zunge
    Liebe ist die Frau, die dir die Luft presst aus der Lunge…"
    "

    Zu Beginn ähnelt dieser Mann noch eher einem gealterten Rockstar, einem King of Poetry-Slam, wie er da auf dem roten Barhocker sitzt, umgeben nur von einem Spielzeughund und zehn großen Lautsprechern, auf denen das übrige Personal hockt, liegt, steht: die Familie, die Gesellschaft. Zaimoglu, Senkel und Perceval haben Molières teils schrilles Komödien-Personal zu einem kakophonischen Chor von Losern uminterpretiert. Die Heuchelei ist zu geistigem und körperlichem Stillstand gefroren, mit Tableaus wie in einem Museum; die höfischen Schmocks sind lächelnde Bubis à la Gilbert & George.

    Der Molière-Kosmos ist ganz da: Célimène aus dem "Menschenfeind", Donna Elvira und der Vater aus Don Juan, Orgon und seine Familie und der alte Sack Harpagon aus dem "Geizigen", der scharf ist auf die junge Nachbarin. Während die Familie sich mit Volkstümlichen bei Laune hält, - "Ein Schiff wird kommen", "Abendstille" oder "Wer hat die Kokosnuss..?" - rapt, gospelt, schreit, kotzt und furzt Thieme ins Mikrofon. Seine Sprache ist brutal fäkal, aber auch wunderbar poetisch. Er ist der "Starsolist im Narrenhaus", wie es im Stück heißt. Wir sehen: Thieme gegen den Rest der Welt, in vier Lebensabschnitten, in einem großen Schmerz-Gedicht. Der Wahrheitsfanatiker Alceste rast gegen die Schleimer (und wird dabei fast zum Wiedergänger Thomas Bernhards):

    ""Die gemeine Ratte sucht die Bürgeretikette,
    in dieser Zeit sind die Arschkriecher Legion!
    Wie also diesem Pack den Humanismus lehren?
    Ich will den ganzen Müll zum großen Haufen kehren!"
    "

    Als Don Juan serviert er die lebenskluge Karin Neuhäuser mit nur scheinbarer Überlegenheit ab:

    ""’Deine Titten hast du mir vorenthalten, mich nicht rangelassen…’ – ’Fertig?!’""

    Der zynische Frauenschlächter wird zum religiösen Kostverächter – scheinbar. "Tartuffe", der selbsternannte Guru, als falscher Heiliger mit der wunderbaren Patrycia Ziolkowska:

    ""’Was tust du da?’ – ‚Was ich tue, ist deiner Gesundheit förderlich. Den Kranken hat Jesus die Hand aufgelegt.’""

    Und den "Geizigen" sehen wir, schon in Windeln, notgeil seine letzte ungeschminkte Botschaft absondern:

    ""’Fotze, Arsch und Schniedel…’ oder ’Geld ist der umgemünzte Wert der Liebe.’""

    Ist das Selbsthass? Ist das Bosheit? Ist das die Vermessenheit eines ewig Hungrigen, der nie "genug" bekommt, der sich nie genug ist? Genug zu wissen: Da hat sich einer radikal tot gelebt. Und vielleicht sogar geglaubt, dass er liebe. Wie das der "Jedermann" ja auch behauptet hat. Mindestens diese Verbindung gibt es zu Hofmannsthal.

    Und während die Salzburger sich noch fragen, warum man "heutzutage alles in Fäkalsprache haben muss", und das Regieteam mit kräftigen Buhs überziehen, ist an diesem Projekt der Mut zu loben, die Weltliteratur auf Egoismus und Sex als Grundformel eingedampft zu haben. Hat Faust je etwas anderes gesucht?, fragt man sich unwillkürlich. Und es ist ein hartes Statement gegen jene ubiquitäre "Traumschiff"-Gefühligkeit, die viele so gerne für echt halten. Dass man das neue Passions-Spiel wegen eines Labels – "Molière-Marathon!" – oder wegen der Bedürfnisse der Festspiel-Gastronomie durch gleich zwei Pausen künstlich streckt, ist allerdings ebenso überflüssig wie anbiedernd. Vielleicht aber auch tiefsinnig-ironisch und vor allem katholisch gedacht: Bei dieser "Passion" kann sich jedermann das Leiden im Stück oder am Stück schön trinken.