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Kranke Psyche, freie Entscheidung

Eine psychische Erkrankung kann man nicht objektiv messen. Trotzdem wird die Selbstbestimmung von psychisch Kranken oft stark eingeschränkt. Neuere Behandlungsformen lassen den Patienten viel stärker mitbestimmen.

Von Jakob Epler | 04.10.2012
    Am 22. Juli 2011 tötete der norwegische Rechtsextreme Anders Behring Breivik in einem beispiellosen Massaker 77 Menschen. Seine Opfer waren zum großen Teil Mitglieder der sozialdemokratischen Jugendorganisation Norwegens. Breivik glaubte sich auf einem "Kreuzzug gegen den Islam", der unter anderem deswegen nötig sei, weil die Sozialdemokraten den Zuzug von Moslems nach Norwegen forcierten.

    Ein Jahr später verurteilte das Osloer Amtsgericht Breivik zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Es stützte sich dabei auf psychiatrische Gutachter. Sie erklärten den Rechtsextremen für zurechnungsfähig. Ein anderes Gutachten hatte ihm zuvor allerdings eine paranoide Schizophrenie attestiert. Breivik habe Wahnvorstellungen und sei deswegen eben nicht zurechnungsfähig, hieß es darin. Claas-Hinrich Lammers, ärztlicher Direktor der Hamburger Asklepios Klinik Nord–Ochsenzoll erklärt, wieso in der Psychiatrie zwei diametral entgegengesetzte Gutachten möglich sind.

    "Das ist eine Frage, wie sie Wahrheit definieren. Es gibt einen Wahrheitsbegriff, der besagt, es gibt eine Übereinstimmung zwischen ihrer Vorstellung und einer anderen Vorstellung, einer messbaren Realität. Wenn ich zum Beispiel sage 'dort steht ein Stuhl', dann kann man überprüfen, ob er dort steht. Das können sie bei einer psychiatrischen Diagnostik in der Regel nicht. Es ist eine Einschätzung anhand von bestimmten Kriterien. Sie können nichts messen. Sodass letztendlich ein hartes Kriterium anhand dessen man entscheidet, hat er die Erkrankung oder nicht, gibt es nicht."

    Das ist ein Grundproblem der Psychiatrie. Die Psyche kann nicht direkt beobachtet werden. Deswegen erkundet der Psychiater das Innenleben seines Patienten durch systematisches Fragen. Bei aller Standardisierung bleibt ein Rest subjektive Wahrnehmung. Vor allem bei der Diagnose Persönlichkeitsstörung ist das ein Problem, denn sie hat einen normativen Aspekt. Sie beurteilt das Wesen, das Sein des Patienten. Im Fall von Breivik ist das besonders eindrücklich. Wäre er für schizophren erklärt worden, wären seine Taten die eines kranken, mithin gestörten Individuums. Da dem nicht so ist, müssen die Morde nun als im Kern politisch begriffen werden.

    Längst suchen Wissenschaftler nach messbaren Merkmalen für psychische Erkrankungen. Und bereits jetzt zeigen Bilder, die mit Kernspintomographen gemacht wurden, wie sich beispielsweise das Gehirn von Depressiven verändert. Das ist eine Traumvorstellung der Psychiater, weil es ihre Disziplin objektivieren würde, sagt Johannes Thome, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Rostock. Er dämpft aber die Erwartungen.

    "Wenn man es genau definiert, kann man natürlich nur lokalisieren, wo im Gehirn Veränderungen stattfinden, wenn ein Individuum unter Depressionen leidet und das auch nur, wenn man Gruppenvergleiche anstellt. Also das bedeutet bei dieser Art von Forschung braucht man eine größere Gruppe von Patienten, die an Depressionen leidet und eine größere Gruppe von Kontrollpersonen und dann kann man statistisch zeigen, dass bestimmte Hirnareale unterschiedlich aktiviert werden in den verschiedenen Gruppen. Natürlich wäre es schön, wenn man das dann diagnostisch benutzen könnte. Weil es aber Gruppeneffekte sind, findet man immer wieder Individuen, für die das jetzt im Einzelfall nicht zutrifft."

    Von entscheidender Bedeutung für Behandlung von Patienten sind neben der Diagnose ethische Grundsätze. Zentral für die Ethik der Psychiatrie ist das Autonomie-Prinzip. Patienten sollen selbstbestimmt wählen, wie sie behandelt werden wollen. Damit das möglich ist, müssen Ärzte sie zuvor über Therapien und Risiken aufklären. Ziel ist eine "informierte Einwilligung".

    Die Selbstbestimmung des Patienten als ethisches Leitmotiv hat den ärztlichen Paternalismus, also die Bevormundung zum eigenen Wohl abgelöst. Das ist noch nicht lange her, weiß Professor Jochen Vollmann, Medizinethiker an der Ruhr Universität Bochum.

    "In der Medizin ist das Paradigma, mehr die Selbstbestimmung des Patienten zu beachten und zu respektieren, ein relativ neues. In der Tat ist die Patientenselbstbestimmung in der Medizinethik erst vor 30, 40 Jahren wirkmächtig geworden."

    In medizinischen Notfällen wird das Autonomie-Prinzip eingeschränkt. So können Bewusstlose naturgemäß ihren Willen nicht äußern. Der Arzt muss handeln, wie es der Patient mutmaßlich wünschen würde. Also beispielsweise lebenserhaltende Maßnahmen einleiten. Auch schwere psychische Erkrankungen können das Autonomie-Prinzip infrage stellen.

    "Stellen sie sich einen depressiven Patienten vor. Der hat nun ein negatives Denken, der sieht überhaupt kein Licht am Ende des Tunnels, der grübelt, Gedanken kreisen immer um dieselben, häufig negativen Ideen - das ist eine Depression. Und jetzt geht es um die Frage der Behandlung mit Antidepressiva und er sagt: Es hilft mir doch alles nichts, es ist alles ganz negativ, es ist keine Hoffnung in der Welt. Da stellt sich die Frage, können sie als Arzt ihm das doch erklären. Ihm doch darlegen, dass das eine wichtige Behandlung wäre, um genau aus diesem Zustand rauszukommen."

    Noch vor wenigen Jahrzehnten wären Medikamente in solchen Fällen auch mal unbemerkt ins Essen gemischt worden, erzählt Steffi Koch-Stoecker. Sie leitet die Psychiatrische Institutsambulanz am evangelischen Krankenhaus in Bielefeld. Wer das Autonomie-Prinzip anerkennt, dürfe Patienten aber nicht einfach an der Hand nehmen und sie in die vermeintlich richtige Richtung ziehen.

    "Es gibt Situationen, in denen ich entscheiden muss. Das sind aber Notfallsituationen, wo eben tatsächlich irgendwas entgleist. Aber ansonsten versuche ich sozusagen nebenherzugehen und nicht an der Hand zu ziehen. Und wenn der Patient einen anderen Weg einschlagen will als ich das für richtig halte, dann sage ich: 'Okay, ich gehe mit, ich habe meine Zweifel und wenn es schief geht, müssen wir gucken, dass wir gemeinsam wenden, aber ich lasse dich dann nicht im Stich und nicht fallen.'"

    Das ist ein zeitaufwendiger Prozess, bei dem sich das nächste Problem bereits am Horizont abzeichnet: Koch-Stoecker beklagt, dass in den Kliniken die Kaufleute das Ruder übernommen hätten. Soll heißen, die Behandlung orientiert sich zunehmend an ökonomischer Gewinnmaximierung. Zeit ist ein knappes Gut und damit teuer. Auch das kann in Zukunft ein ethisches Problem werden.