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Kreationisten in der Türkei auf dem Vormarsch

In der Türkei wollen über 70 Prozent der Erwachsenen nichts von Evolution wissen. Neben der Darwinschen Lehre wurde der Kreationismus hier schon in den 1980er-Jahren in die Schulbücher aufgenommen. Naturwissenschaftler fürchten, dass er nun auch an den Hochschulen offiziell Einzug halten könnte.

Von Gunnar Köhne | 24.09.2012
    Vergangenen Mai vor der Istanbuler Marmara-Universität. Studenten und Lehrer protestierten gegen eine Veranstaltung, die unter dem unverfänglichen Titel "Warum verneint die Wissenschaft eine Evolution zwischen den Spezies?" gut zwei Dutzend Darwin-Kritiker zusammen gebracht hat. Als sogenannte Kreationisten bezweifeln sie die Lehre von der Selektion und der gemeinsamen Abstammung von Mensch und Affe. Für sie gilt vielmehr die Schöpfungsgeschichte in Koran und Bibel: Alle Kreaturen sind demnach von Allah geschaffen.

    Für die Demonstranten war die Veranstaltung ein gefährlicher Tabubruch: Erstmals durften an einer staatlichen türkischen Universität kreationistische Ideen verbreitet werden. Für Kerem Cankocak, Professor an der Istanbuler Technischen Universität, die fast zwangsläufige Konsequenz einer zunehmend anti-aufklärerischen Bildungspolitik:

    "Das ist das Resultat der vergangenen 32 Jahre. Seit dem Militärputsch von 1980 wurden die religiösen Kräfte in Schulen und Universitäten immer mehr gestärkt. Von meinen heutigen Studenten haben 90 Prozent in der Schule nichts über die Evolution gehört oder sie glauben daran nicht. Wie soll ich Biologie, Genetik unterrichten ohne Evolutionslehre?"

    Schon in den 1980er-Jahren wurde Kreationismus in die türkischen Schulbücher aufgenommen – neben der anerkannten Darwinschen Lehre. Unter der religiös-konservativen AKP-Regierung habe der Einfluss religiöser Ideen in allen Schulfächern zugenommen. Anfang des Jahres hatte Ministerpräsident Erdogan angekündigt, alle türkischen Schüler würden künftig zu "guten Moslems" erzogen. Offiziell soll in den Schulen immer noch beides unterrichtet werden: Die Evolutionstheorie und der Kreationismus. Im Alltag jedoch, so beklagt die türkische Lehrergewerkschaft, sähen sich die Pädagogen von Seiten der Elternschaft und der Schulbehörden großem Druck ausgesetzt und verzichteten darum oft auf die Darwinsche Lehre. Diese Medizinstudenten der Istanbuler Marmara-Universität finden es völlig in Ordnung, wenn der Kreationismus gleichberechtigt unterrichtet wird:

    "Als angehende Ärzte finden wir es völlig normal, dass man offen ist für alle Meinungen und diese überprüfen kann. Wir sollten nicht immer bloß die Meinung unserer Professoren akzeptieren."

    "Unsere Lehrer sagen, dass mit der Evolution alles begann. Aber man kann nicht alles mit der Evolution erklären."

    Der Machtkampf zwischen säkularen und religiösen Kräften in der Türkei hat die Wissenschaft erreicht. Bereits vor drei Jahren kippte der Türkische Wissenschafts- und Forschungsrat eine Titelgeschichte über Charles Darwin aus seiner Monatszeitschrift "Bilim ve Teknik" – zu deutsch: Wissenschaft und Technik. Die Chefredakteurin des Blattes wurde entlassen. Kritiker wie der Naturwissenschaftler Kerem Cankocak warnen vor einem Rückschritt um Jahrhunderte:

    "Demnächst müssen wir auch noch unterrichten, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Ohne rationale Wissenschaft kann dieses Land nicht existieren. Sonst landen wir im Mittelalter. Es wird von Tag zu Tag schlimmer."

    Bereits im Jahr 2005 hat eine europaweite Umfrage ergeben, dass nirgendwo in Europa so wenige Menschen an die Evolutionstheorie glauben wie in der Türkei. Nur jeder dritte Türke hielt damals die Darwinsche Abstammungslehre für glaubwürdig. Die staatliche türkische Hochschulaufsicht YÖK hat nun angekündigt, die Curricula der Universitäten grundsätzlich zu überarbeiten. Naturwissenschaftler fürchten, dass dann der Kreationismus auch in den Hochschulen offiziell Einzug hält. Ibrahim Pirim, Lehrer an der Celebi Universität in Izmir, bekennender Anhänger des Kreationismus, würde das begrüßen. Schließlich sei die Evolutionstheorie völlig unzureichend:

    "Mich stört die Theorie, dass sich Moleküle und Zellen zufällig zu einer Ordnung zusammen gefunden haben sollen. Das können keine Zufälle ein. Ein Schöpfer muss sie geordnet haben."