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Kreativ gegen G20
Wie Künstler und Kulturschaffende in Hamburg protestieren

Morgen kommen die Vertreter der mächtigsten Industrie- und Schwellenländer in Hamburg zusammen. Im Vorfeld des G20-Gipfels haben bereits zahlreiche Protestaktionen - auch von kultureller Seite - stattgefunden.

Von Juliane Reil | 06.07.2017
    Darsteller der Kunstaktion "1000 Gestalten" "befreien" sich am 05.07.2017 in Hamburg symbolisch von ihrer Hülle aus Lehm. Die Aktion steht im Zusammenhang mit dem bevorstehenden G20-Gipfel (Bild: Daniel Reinhardt/dpa)
    "Bist ja kein Mensch mehr, sondern nur noch Gestalt" (dpa / Daniel Reinhardt)
    Der ehemalige Güterbahnhof am Oberhafen - Hamburgs neues Quartier für Kreative - gleicht einem Festival, kurz nach dem Dauerregen. An meterlangen Kleiderständern hängen graue matschverkrustete Klamotten: Hemden, Hosen und Röcke. Hier ist jedoch keiner froh, endlich aus der Dreckswäsche rauszukommen: Stattdessen lassen sich die Menschen einkleiden. Wobei "Menschen" das falsche Wort ist.
    "Bist ja kein Mensch mehr, sondern nur noch Gestalt."
    Protest gegen soziale Kälte
    Angeregt von Künstlern des Hamburger Gängeviertels haben sich gestern Hunderte von freiwilligen Helfern und Performern - von jung bis alt, mit ganz unterschiedlichen Backgrounds - zu der Performance "1000 Gestalten" zusammengefunden. Eine Protestaktion, die sich gegen die soziale Kälte und neoliberale Politik der G20 wendet. Rita Kohel, die das künstlerische Konzept mitentwickelt hat, erklärt, wie sie unsere Gesellschaft sieht:
    "Leute, die einfach permanent in einer Arbeitssituation sind, die sie von ihren Sinnen abschneidet. Wo es eben darum geht, allein voranzukommen und die Leute eben nicht das Gefühl haben, dass sie im Grunde mit allen Menschen verbunden sind."
    Und deshalb werden in der Kunstaktion aus Menschen graue Gestalten. Zombiemäßig, als wären sie ferngesteuert, strömten sie zum Burchardtplatz am Chilehaus in der Hamburger Altstadt. Wie die grauen Herren bei Momo, deren Zeit jedoch abgelaufen ist. Damit zählt diese Performance zu den bildstärksten und kreativsten Protestaktionen. Viele andere haben bereits stattgefunden: Vom Massencornern bis zur nächtlichen Tanz-Demo. Darunter auch: der Arrivati Park. Eine Art Kunstgalerie unter freiem Himmel. Vier Kilometer Luftlinie vom Oberhafen entfernt liegt er Mitten auf St. Pauli. Also da, wo Hamburg besonders widerborstig ist - und die G20-Sicherheitzone direkt angrenzt.
    Stadtbürger im Arrivati Park
    "Wir sind hier im Arrivati Park, der Park der Angekommenen. Jetzt möchte ich gern mal diese Karte lüften. Wir nennen sie 'Hamburg Urban Citizen Card'. Ein anderes Modell. Statt Staatsangehörigkeit und Nationalität. Die Zugehörigkeit zu einer Stadt."
    Erklärt der Hamburger Aktivist und Musiker Niels Boeing, der den Arrivati Park mitinitiiert hat. Vor ihm ein koffergroßes Kartenmodell, das an einen Personalausweis erinnert. Das Vorbild: die New Yorker Identifikationskarte "ID NYC". Menschen sollen unabhängig von ihrem Wohn- und Aufenthaltsstatus nicht nur Zugang zu öffentlichen Diensten, sondern auch Schutz vor Polizeiwillkür haben. Auch wenn die Hamburger Karte nur symbolisch ist, Boeing verbindet eine Hoffnung mit ihr.
    "Man kann in der Vergangenheit sehen, dass so einige Themen, die im politischen Mainstream jetzt in den letzten Jahren angekommen sind, am Anfang ganz oft über symbolische Aktionen und Aktionen auf der Straße losgetreten sind."
    Damit sendet der Arrivati Park ein klares Signal an die G20-Politiker. An einem schmalen Tisch werden die Karten - klein und handlich - sodass sie ins Portemonnaie passen, ausgestellt und gestempelt.
    "Foto ist in dem Fall schon drauf. Du darfst dann weiter längs gehen und gleich der Nächste darf die Karte ausfüllen. Soll ich schon mal Dein Foto zuschneiden?"
    "Die Leute sind abgestumpft"
    Bunte Formen des künstlerischen Protests setzen in Hamburg viele individuelle Zeichen. In ihrer kreativen, teilweise poetischen, Form sind sie nicht abgenutzt, sondern irritieren - anders als herkömmliche politische Demonstrationen das können. Den Wunsch, neue Aufmerksamkeit wachzurufen, verbindet auch Rita Kohel mit "1000 Gestalten".
    "Da werden vielleicht auch die Leute noch abgeholt und zum Nachdenken gebracht, die schon die ganze Medienberichterstattung - die schon so abgestumpft sind davon - und gar nicht mehr zuhören, wenn nur das Wort 'G20' gesagt wird oder was das mit Politik zu tun hat."
    Dass diese Bilder auch raus aus St. Pauli gelangen und der Protest sich multipliziert, dafür soll das sogenannte alternative Medienzentrum im Millerntor-Stadion sorgen. Akkreditierte Journalisten können von hier aus ungestört arbeiten und für ihre Redaktionen in aller Welt berichten.