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Kreativität statt Perspektivlosigkeit

1949 wurde das bis dahin souveräne Tibet von der Volksrepublik China besetzt und später annektiert. Heute leben etwa 120.000 Tibeter allein im indischen Exil, eine vorübergehende Bleibe, auch nach fast fünf Jahrzehnten. Die jungen Tibeter sind schon im Exil geboren, sie warten auf die Rückkehr in eine irgendwann freie Heimat, die sie selbst nicht mal kennen. Irgendwo zwischen Sehnsucht und verlorenem Tibet, suche sie nach Identität und einer Lebensperspektive.

Von Ingrid Norbu | 10.03.2007
    Steile Treppen verbinden die Häuser, die wie Schwalbennester an den Hang geklebt sind. Entlang der Gassen reihen sich Hotels, Schnellrestaurants und Antiquitätenläden. In Dharamsala, dem einstigen Erholungsort britischer Kolonialbeamter in kühlen 2000 Metern Höhe, treffen sich heute tibetische Flüchtlinge, indische Geschäftsleute und Touristen aus aller Welt. Hier ist in den letzten 48 Jahren "Little Lhasa", das kleine Lhasa in Indien entstanden, mit tibetischen Klöstern und dem Wohnsitz des Dalai Lama. Viele Alte, die 1959 ihre Heimat verließen, haben die Hoffnung längst aufgegeben, jemals in ein freies Tibet zurückkehren zu können. Für einige Junge ist das Warten darauf auch keine Lebensperspektive. Lobsang Wangyal ist 37 Jahre alt.

    " Als ein Tibeter der zweiten Generation, die im Exil geboren ist, als einer, der nie seine Heimat gesehen hat, habe ich mich immer gefragt, was ich beitragen könnte, damit ich eines Tages in das Dorf meiner Eltern in Osttibet zurückkehren kann. Als der Dalai Lama früher sagte, wir müssen für Unabhängigkeit kämpfen, war ich noch klein. Danach entwickelte er die Strategie des Mittleren Weges, um die beiden Extreme auszuschließen, das eine Extrem von China beherrscht zu werden oder aber das andere, völlige Unabhängigkeit zu bekommen. Wenn die Bedingungen des Mittleren Wegs erfüllt und Tibet ein wirklich autonomes Gebiet Chinas wäre, würden wir automatisch Teil einer Supermacht. Auch an den sozialen und technischen Errungenschaften dort hätten wir teil, denn China würde dann doch auch uns gehören. "

    Lobsang Wangyal schweben Vorbilder wie Schottland oder Südtirol vor, die sich ein Stück Autonomie erkämpft haben. Um diesem Ziel näher zu kommen, rief er einen Miss-Tibet-Schönheitswettbewerb ins Leben, der international beachtet wurde. Bei der letzten Miss Earth Konkurrenz 2006 posierten Miss China und Miss Tibet zusammen auf einem Foto. Er tritt auf Musik- und Filmfestivals auf und will 2008 sogar eine tibetische Olympiade in Dharamsala veranstalten.

    " Die tibetische Freiheitsbewegung sollte sich mehr auf kreative und wissenschaftliche Methoden konzentrieren. Hungerstreiks und Demonstrationen bekommen nicht genug Aufmerksamkeit. Nur wenn wir kreativ sind, kommen die Medien, hören uns zu und berichten darüber. "

    In Jimmy's Pizza Kitchen treffen sich derzeit die jungen Kreativen in Dharamsala. Hier sei immer ein Tisch für sie reserviert, sagt Tenzin Tsündue. Er trägt Stiefel, Jeans und eine schwarze Wolldecke um die Schultern. Für die einen ist er ein Held, für andere jemand, der das Image einer friedliebenden Tibetergemeinde ankratzt. Als im Jahr 2002 der chinesische Premierminister die indische Wirtschaftsmetropole Bombay besuchte, stahl Tsündue ihm die Schau. Er war an der Fassade des Hotels, in der der chinesische Gast wohnte, hochgeklettert und hatte eine tibetische Fahne entrollt, Flugblätter abgeworfen und Slogans gerufen. Doch damit nicht genug.

    " Nach diesem Protest in Bombay habe ich 2005 eine ähnliche Aktion in Bangalore in Südindien gestartet als der chinesische Premierminister Wen Jiabao sich dort mit Geschäftleuten traf. Die Polizisten erzählten mir später, dass 1500 von ihnen für die Sicherheit des chinesischen Gastes sorgen sollten. Ich konnte alle Sicherheitslinien durchbrechen, weil ich mich in einen Turm gegenüber des Gebäudes, in dem der chinesische Premier ein Treffen arrangiert hatte, einschleichen konnte. Die Medien berichteten vor allem über mich, wie ich die Tibetfahne enthüllte und Flugblätter abwarf. Ehe im letzten Jahr der chinesische Präsident nach Indien kam, wollte China aber sicher gehen, dass dieser Kerl, der diese frechen Aktionen ausführt, nicht wieder zum Zuge kommt. "

    Tenzin Tsündue wurde schon vor dessen Besuch von 20 Polizisten daran gehindert, Dharamsala zu verlassen, was ihm ohne sein Zutun noch mehr Aufmerksamkeit in den Medien verschaffte. Vorbild für seinen Kampf ist Mahatma Gandhi. Er trägt immer eine rote Binde um den Kopf, die er erst ablegen will, wenn Tibet wieder frei ist.

    " Wir werfen keine Bomben, wir begehen keine Selbstmordattentate, wir tragen keine Waffen und nehmen keine Chinesen als Geißeln, deshalb bekommen wir keine Aufmerksamkeit. Wir müssen etwas Kreatives tun, etwas, was völlig gewaltlos ist, und dann unsere Forderungen aussprechen, damit die Welt uns zuhört. "

    Im Empfangszentrum sitzen Neuankömmlinge aus Tibet auf ihren Betten im Schlafsaal. Einige spielen Karten, andere rennen im Treppenhaus umher. Die meisten haben eine gefährliche Flucht über den Himalaja hinter sich und sind froh, endlich ihr Ziel Dharamsala erreicht zu haben. Was kann die Exilgemeinde den meist jungen Flüchtlingen bieten, fragt sich der Mönch Samdong Rinpoche, der von den Tibetern direkt gewählte Premier der Exilregierung in Dharamsala.

    " Jedes Jahr nehmen wir hier vier- bis fünftausend Neuankömmlinge aus Tibet in Empfang. Die Exilregierung möchte ihnen eine fünfjährige Ausbildung ermöglichen, in der sie ihre Sprache und irgendein Handwerk lernen, und sie dann ermuntern, in ihr Heimatdorf in Tibet zurückzukehren. Sie sollten in ihrer Heimat bleiben und dort die tibetische Kultur und Gesellschaft schützen und dafür sorgen, dass nicht noch mehr Land in fremde Hände fällt. Sonst wird Tibet bald denen gehören, die aus China herein strömen. (12) Für die allerdings, die im Exil geboren und aufgewachsen sind, ist es schwer nach Tibet zu gehen, denn sie haben keine Wurzeln dort. Wohl oder übel müssen sie in Indien bleiben. Trotzdem ermutigen wir sie, Tibet zu besuchen und etwas zur Entwicklung Tibets beizusteuern. "

    Die Neuankömmlinge aus Tibet müssen erst einmal Brot am Straßenrand verkaufen. Die älteren jedenfalls. Sie hocken da mit ihren frischen Bauerngesichtern und sehen erstaunt diesem Treiben aus indischen Gemüsehändlern, Taxifahrern und tibetischen Mönchen zu, die als einzige zielstrebig voranschreiten. Am Straßenrand sitzen Jugendliche und wärmen sich die Hände an Gläsern mit heißen Milchtee. Beim Hindernislauf um schlafende Hunde, ausgelegte Waren, parkende Autos und Bettler, die sich einem in den Weg stellen, fällt immer wieder auch der Blick auf die hohen Eisgipfel, die das Tal begrenzen. Da ist kein weiterkommen. Dharamsala ist wie eine Sackgasse, auch für die Jungen. Nicht Tibet ist das Traumland junger Tibeter, sondern die USA.

    " Wir können niemanden daran hindern, in die USA zu gehen. Die Abwanderung ist enorm. An allen Ecken gehen uns die jungen fähigen Leute verloren. "