Freitag, 19. April 2024

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Rumänien nach 1989
Krieg gegen das Vergessen

Vor 30 Jahren fiel in Rumänien die kommunistische Diktatur. Dabei war Staatschef Nicolae Ceaușescu gerade erst wieder im Amt bestätigt worden. Die Proteste begannen in Timișoara im Westen des Landes, wo der ehemalige Revolutionär Traian Orban heute mit einer Gedenkstätte gegen das Vergessen kämpft.

Von Manfred Götzke und Leila Knüppel | 09.12.2019
Fahrgäste sitzen in einer Straßenbahn in Timișoara, die mit Fotos der Rumänischen Revolution 1989 beklebt ist
Die rumänische Stadt Timișoara: Hier begannen 1989 die Proteste gegen das Ceaușescu-Regime (AFP/ Daniel Mihailescu)
Eine baufällige ehemalige Militärkaserne, von der der Putz blättert, versteckt hinter anderen Gebäuden. Das ist also die "Gedenkstätte der Revolution in Timișoara". Es sieht so aus, als seien die Ereignisse von 1989 in der Rumpelkammer der Geschichte verstaut worden – und mit ihr der Leiter der Gedenkstätte und ehemalige Revolutionär Traian Orban.
"30 Jahre ein Krieg gegen das Vergessen. Wir hatten ein anderes Haus, das 'Memorial der Revolution'. Es wurde aber an eine Privatperson weitergegeben. Wir mussten im Jahr 2011 raus. Wir sind jetzt in einer Militärkaserne, das ist interessant: eine Gedenkstätte in einer Militärkaserne. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Soldaten geschossen haben auf dem Freiheitsplatz und an vielen anderen Orten in Temeswar."
In den Westen gelangten unabhängige Informationen leichter
Orban sitzt oben in seinem Museumsbüro, das gleichzeitig sein Schlafzimmer ist. In einer zotteligen Kunstfelljacke gegen die Kälte, beim morgendlichen Kaffee. "Ich war Tierarzt bis zur Revolution. Und ich wartete auch auf einen speziellen Moment: Bekommen wir eine Revolution hier in Rumänien? Und dann am 16. habe ich gehört, Temeswar bekommt eine Revolution."
Nicht in der Hauptstadt, in Bukarest, regte sich Protest. In Timișoara – oder deutsch Temeswar. Im westlichen Zipfel des Landes, nahe der ungarischen Grenze. Hierher gelangten unabhängige Informationen leichter.
"Wir haben gehört, was passiert ist in allen kommunistischen Ländern Osteuropas, im Fernsehen, im 'Radio Freies Europa'."
Leiter der Gedenkstätte Traian Orban auf dem Freiheitsplatz, wo er 1989 angeschossen wurde
Lange hält es Traian Orban auf dem Freiheitsplatz in der Innenstadt von Timisoara nicht aus: Hier wurde er 1989 angeschossen, musste miterleben, wie zahlreiche Aufständische starben. (Deutschlandradio/ Leila Knüppel /Manfred Götzke)
Pfarrer László Tőkés löste die ersten Proteste aus
Orban zieht sich seinen Mantel über, greift sich seinen Stock, um uns durch Timișoara zu führen. An Orte der Revolution. Unser erster Stopp: eine kleine unscheinbare Seitenstraße. An einem der Hauseingänge drückt Orban auf eine Klingel: "Wir können mal schauen, ob der Pastor da ist."
Im ersten Stock, ganz unerwartet, versteckt hinter einer normalen Tür: eine Kirche mit Altar, Bänken, Orgel und Empore. Hier hat der damalige Pastor, László Tőkés, über Probleme des Landes gesprochen. Als er in ein abgelegenes Dorf versetzt werden sollte, weigerte er sich zu gehen. Seine Gemeindemitglieder unterstützen ihn.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe 30 Jahre nach der Ceaușescu-Diktatur - Mühsame Aufarbeitung in Rumänien.
In der Kirche hätten die Menschen Nachtwache gehalten, erzählt Orban – und setzt sich in eine der Kirchenbänke. Sein Bein, das er ein wenig nachzieht, macht ihm das Stehen schwer. Eine Schussverletzung aus Revolutionstagen. "Als die Leute das gesehen haben, sind auch Mitglieder anderer Gemeinden dorthin gekommen. Und dann waren auf einmal mehr Menschen da, als in die kleine Straße vor der Kirche passten." Am kommenden Tag wurde Tőkés verhaftet, mittlerweile hatten sich die Proteste auf die Stadt ausgeweitet.
Einschusslöcher am Freiheitsplatz
Wir fahren weiter in die Innenstadt: Dort versammelten sich am 17. Dezember 1989 Tausende. Auch Orban war hierher gekommen. "Alle zusammen forderten Libertate - wunderschön. Forderten zusammen Freiheit. Nach 45 Jahren Kommunismus."
Auf dem Freiheitsplatz bringen Straßenarbeiter gerade die Weihnachtsdekoration an den Laternenpfählen an. Auch eine Eisbahn wird aufgebaut – für den Winterrummel.
"Hier wurde ich angeschossen. Die Soldaten sind von dort gekommen. Der Platz war voll von Leuten. Es kamen Panzer. Und dann haben sie angefangen zu schießen, als sie gemerkt haben: Die Leute gehen nicht weg. Da kam der Befehl von Ceaușescu zu schießen. Es waren sehr viele Leute hier und es sind sehr viele gestorben. Da sieht man an den Häusern noch die Einschusslöcher."
Orban deutet auf einige Hauswände – und auf die Marienstatue in der Mitte des Platzes. "Dort, dort, dort sind sie. Lass uns gehen." Lange hält Orban es nicht auf dem Platz aus, der uns heute so weihnachtlich harmlos empfängt. Wir gehen weiter. Wenige hundert Meter entfernt liegt der damalige Opernplatz, der mittlerweile in Siegesplatz umbenannt wurde.
"Hier am Opernplatz wurde Timișoara als erste freie Stadt ausgerufen. Nach 45 Jahren Kommunismus. Hier hat es angefangen. Aber dann wurde auch in anderen Städten demonstriert. Gegen den Kommunismus, gegen den Diktator, gegen Ceaușescu. Und es hat funktioniert. Ich selbst war da schon im Krankenhaus, habe sie aber rufen hören: Freiheit! Und habe gewusst: Es geht weiter."
Wer waren die Heckenschützen?
Am Ende unseres Rundgangs besuchen wir den Heldenfriedhof von Timișoara. Gleich links am Eingang liegen nebeneinander dunkle Steine mit eingravierten Namen. Auf seinen Stock gestützt geht Orban die Reihen entlang. "Das sind die Namen und das Alter derjenigen, die bei der Revolution gestorben sind."
"Wie viele Gedenksteine sind das?"
"104."
Insgesamt starben in Rumänien über 1.000 Menschen in den Revolutionstagen. Wer die zahlreichen Opfer zu verantworten hat, ist auch 30 Jahren nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur unklar. Viele wurden von Heckenschützen erschossen, nachdem das Militär sich bereits mit der Bevölkerung solidarisiert hatte, die Revolution eigentlich beendet war. Wer die Heckenschützen waren, ist bis heute nicht geklärt: Alte Garden Ceaușescus, sagen die einen. Kämpfer, die im Auftrag der neuen Machthaber für Verwirrung sorgten, sagen die anderen. Mittlerweile wird deswegen gegen den ehemaligen Präsidenten der Nachwendejahre, Ion Iliescu, ermittelt. "Eigentlich ist alles klar, aber es muss noch jemand schuldig gesprochen werden."
Hinten, auf dem Friedhof, in einem steinernen Mahnmal sollte eigentlich die Flamme des "ewigen Lichts" flackern – und so an die Revolutionsopfer erinnern. Nur brennt hier nichts. Stattdessen riecht es nach Gas. "Das ist ein Krieg gegen das Vergessen, ein Krieg gegen das Vergessen."