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Krieg und Frieden

Leo Tolstoi, Krieg und Frieden. Die Urfassung. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Mit einem Nachwort von Thomas Grob. Eichborn, Berlin 2003, 1223 Seiten.

Brigitte van Kann | 18.09.2003
    Es klang äußerst unseriös, wie der Moskauer Verlag Zacharov im Jahr 2000 für das Buch warb: "Nur halb so lang und fünfmal so spannend" sei diese erste vollständige Version von Tolstojs "Krieg und Frieden" aus dem Jahre 1867. "Fast keine philosophischen Abschweifungen, viel mehr Frieden und weniger Krieg" hieß es, und außerdem stellte man dem Leser ein vollkommen ungetrübtes Happy end in Aussicht, wörtlich: "Fürst Andrej und Petja Rostov bleiben am Leben."

    Dessen ungeachtet hat der Eichborn Verlag diese sogenannte Urfassung ins Deutsche übersetzen lassen. Stolze 1200 Seiten. Zunächst einmal gebührt der Übersetzerin Dorothea Trottenberg Lob für die Qualität ihrer Arbeit: in ihrer Übertragung hält der Text "Schritt mit unserem Puls", wie Nabokov über Tolstojs Prosa schrieb.

    Von einer "kleinen literarischen Sensation" spricht der Verlag vorsichtig, andererseits verkündet er, hier sei "ein neuer Tolstoj zu entdecken"; die Werbung verheddert sich in den Daten der komplizierten Editionsgeschichte von "Krieg von Frieden", die der Slavist Thomas Grob im Nachwort so eindrucksvoll darlegt: Nicht 1866 schrieb Tolstoj "Ende" unter die Urfassung des später weltberühmten Werks, sondern ein Jahr später. Diesen Text veröffentlichte der Autor nicht, sondern überarbeitete und ergänzte ihn und brachte die neue, nun fast doppelt so umfangreiche Version in den Jahren 1868/69 heraus.

    Thomas Grob macht darauf aufmerksam, dass auch diese Redaktion, oft als Endfassung bezeichnet, keineswegs das Ende der Arbeit am Text bedeutete. Zu seinen Lebzeiten produzierte und veröffentlichte Tolstoj etliche verschiedene Versionen von "Krieg und Frieden", einmal sogar zwei innerhalb eines Jahres. Was heute als kanonisierte Fassung gilt, ist ein Konstrukt aus verschiedenen Versionen, mit dem die Herausgeber der sowjetischen Akademie-Ausgabe dem philologischen Durcheinander ein Ende zu machen hofften: ein Buch, das es so nie gegeben hat, wie der Nachwortautor schreibt.

    Wenn das ein Vorwurf sein sollte, so gilt er auch für die vorliegende Ausgabe der Urfassung von 1867: Sie basiert auf der akribischen Arbeit einer russischen Forscherin mit dem schönen Namen Evelina Zajdenšnur, die in mühevoller, Jahrzehnte langer Arbeit die zum Teil mehrfach überschriebene Handschrift entzifferte und 1983 in Band 96 der angesehenen wissenschaftlichen Reihe "Literarisches Erbe" veröffentlichte. Die "kleine" literarische Sensation ist also schon zwanzig Jahre alt! In einem Akt redaktioneller "Selbstermächtigung", wie Thomas Grob es nennt, ergänzte der Moskauer Verleger Zacharov diesen Urtext nun seinerseits aus Tolstojs Handschriften und ersetzte die zahlreichen französischen Dialoge durch Übersetzungen, die der Autor selbst für eine Ausgabe von 1873 angefertigt hatte. In späteren Ausgaben kehrte er allerdings wieder zum Französischen zurück. Wo und wie in den gesicherten Text der Urfassung eingegriffen wurde, verschweigt die russische Ausgabe, die editorischen Angaben sind dürftig und nebulös, Kommentar und Nachwort fehlen ganz.

    Es wäre sauberer gewesen, die von Evelina Zajden nur rekonstruierte Urfassung ins Deutsche zu bringen, und nicht das zweifelhafte Gebilde eines selbstherrlichen Moskauer Verlegers. Aber philologische Bedenken einmal beiseite - was bietet diese kürzere Version von "Krieg und Frieden" und für welchen Leser könnte sie interessant sein?

    Tolstoj-Forscher werden sich an die wissenschaftliche Ausgabe halten. Ungeduldige Leser werden vor einem Text, der immerhin auch noch 1200 Seiten hat, zurückschrecken. Im Grunde genommen ist das Buch nur etwas für passionierte Tolstojaner, die "Krieg und Frieden" in der kanonisierten Form kennen und parat haben. Denn wie soll man mit Vergnügen die Unterschiede feststellen - oder wie der Verlag es nennt: einen "neuen" Tolstoj entdecken - wenn man den alten gar nicht kennt?

    Der Roman liest sich, wie es im Nachwort werbend heißt, "unerwartet zügig'". Schlanker sei der Text, der Stil "schneller" und wirke im Vergleich "frisch, ja spontan". Es ist richtig, seine Monumentalität, seine epische Breite hat der Roman hier noch nicht erreicht. Aber gerade sie sind es ja, die seinen Weltruhm ausmachen. Wer "Krieg und Frieden" gelesen hat, weiß, wie sehr man in diesem Buch versinkt und wie verwaist man sich fühlt, wenn es schließlich ausgelesen ist. Zügigkeit und Kürze schmälern nur das Vergnügen und fallen damit als Vorzüge aus.

    Natürlich - wer hätte Tolstojs erschöpfende Ausflüge in militärhistorische und geschichtsphilosophische Themen nicht auch mit Ungeduld gelesen. In der schlanken Fassung fehlen sie fast ganz. Und plötzlich vermisst man sie: Es geht die Spannung verloren, die sich während des Lesens dieser ausgedehnten Passagen aufbaut. Tolstoj wäre nicht der größte russische Erzähler, wenn er seine Exkurse, die dokumentarischen und essayistischen Passagen, nicht fein kalkuliert in die Stränge der fiktiven Romanhandlung eingeflochten hätte.

    Wer beide Fassungen vergleicht, bekommt Einblick in Tolstojs lebenslange Arbeit der "Selbstvervollkommnung", in den Widerstreit zwischen dem Künstler und dem Moralisten Tolstoj. Die erste vollständige Fassung von "Krieg und Frieden" ist ungeglätteter, die Helden bisweilen ungehobelter, die Beschreibungen drastischer. Noch hat der Autor sein Werk nicht mit Frömmigkeit und patriotischem Sinn überzogen.

    Bei allem Vergnügen an den beherzten Formulierungen, die Tolstoj sich später versagte, überwiegt das Empfinden des Verlusts gegenüber der Monumentalversion: wie angesichts eines vormals dicken, rosigen Menschen, der plötzlich schlank, aber dafür auch grau und faltig geworden ist.

    In diesem wie "abgespeckten" "Krieg und Frieden" kommt vor allem die historische Dimension zu kurz: der Autor als Geschichtsforscher, der die Dynamik des Krieges am Beispiel der Napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1812 untersuchte und dokumentierte - und heftig gegen regierungstreue russische und französische Berufshistoriker polemisierte. Nur wer die lange Fassung des Werks liest, das Tolstoj selbst übrigens nicht als "Roman" bezeichnet wissen wollte, erkennt die frappierenden Parallelen zwischen Napoleons gescheitertem Russlandfeldzug und dem der deutschen Wehrmacht. Generäle, die "Krieg und Frieden" kannten, hätten die Lektion eigentlich verstehen müssen. Um so erstaunlicher erscheint es, dass das Buch zur Lieblingslektüre der Sicherheitsberaterin des amerikanischen Präsidenten gehört: Condoleeza Rice will "Krieg und Frieden" schon zweimal gelesen haben - in der Monumentalfassung und auf russisch.