Donnerstag, 28. März 2024

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Kriegstagebücher von Astrid Lindgren
"Ein Gespür von Machtlosigkeit"

Astrid Lindgren schildert in "Die Menschheit hat den Verstand verloren", wie das Kriegsgeschehen ihren Alltag veränderte. Ihre Tagebücher zeigten Düsterkeit und eine Art von Verzweiflung, sagte die Schriftstellerin Rávic Strubel, die das Vorwort zur jetzt erschienen deutschen Ausgabe geschrieben hat, im DLF.

Antje Rávic Strubel im Gespräch mit Kathrin Hondl | 25.09.2015
    Die schwedische Kinderbuch-Autorin Astrid Lindgren in ihrem Landhaus in Furusund in Schweden im Sommer 1987.
    Die schwedische Kinderbuch-Autorin Astrid Lindgren (picture alliance / dpa / Jörg Schmitt)
    Kathrin Hondl: "Karlsson vom Dach", "Pippi Langstrumpf", "Michel aus Lönneberga", "Ronja Räubertochter" - die Bücher von Astrid Lindgren haben die Welt um viele großartige, mutige, lustige und einzigartige Heldinnen und Helden bereichert. Und ihre "Kinder von Bullerbü" haben auch unser Bild von Schweden wohl entscheidend geprägt, nämlich Sommeridylle mit roten Holzhäusern am Wasser. Im Ullstein-Verlag erscheint heute nun ein Buch von Astrid Lindgren, das auf den ersten Blick so gar nicht zu ihrer bekannten Kinderheldenwelt zu passen scheint. "Die Menschheit hat den Verstand verloren" ist der Titel. Es sind Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945, die Kriegstagebücher von Astrid Lindgren, geschrieben vor den Kinderbüchern, die sie berühmt machten. "Pippi Langstrumpf" entstand am Ende dieser Kriegsjahre 1944. - Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel hat das Vorwort zur deutschen Ausgabe geschrieben. Frau Rávic Strubel, lässt sich in diesen Tagebüchern nachvollziehen, wie es zu "Pippi Langstrumpf" kam? Ist "Pippi Langstrumpf" womöglich ein Kriegskind?
    Antje Rávic Strubel: Das ist eine der interessanten Sachen an diesem insgesamt eigentlich ziemlich spannenden Buch. Man kann so ziemlich mitverfolgen, wie Astrid Lindgren beschließt, daraus ein Buch zu machen. Bekannt ist ja vielleicht schon, dass sie das für ihre Tochter erfunden hat. Die Tochter hatte den Namen erfunden, sie erfindet dann die Geschichte dazu, entschließt sich aber in dem Moment, daraus ein Buch zu machen und der Tochter zu schenken, als sie begreift, was im Warschauer Ghetto passiert, nämlich dass die Juden systematisch ausgerottet werden. Und dann kann man auch Pippi Langstrumpf noch mal ganz anders lesen, wie so ein Widerstandsbuch eigentlich oder ein Buch, was sie dieser ganzen Grausamkeit versucht entgegenzusetzen.
    Hondl: Das heißt, man erkennt da schon die Kinderbuchautorin Lindgren, die sich ja dann auch später immer sehr vehement vor allem für die Rechte von Kindern eingesetzt hat.

    Rávic Strubel: Man erkennt die Autorin noch nicht ganz, aber die Entwicklung zu einer Autorin ist deutlich. Ich glaube, sie hat diese Tagebücher angefangen, um sich selber klar zu werden, was da um sie herum passiert. Sie sitzt da halbwegs verschont auf dieser Insel und rund herum rücken die Fronten immer näher und ganz Europa versinkt in Elend und Schutt und Asche, und sie versucht, da irgendwie einen Überblick zu behalten, und erst im Laufe dieses Schreibens wird ihr selber auch klar, dass sie vielleicht für eine größere Öffentlichkeit sogar schreiben möchte.
    Antje Ravic Strubel lächelt auf der Buchmesse in Leipzig im Jahr 2007.
    Antje Ravic Strubel (Erwin Elsner, dpa picture-alliance)
    Hondl: Durch die Auseinandersetzung mit dem Krieg, der ja eigentlich fern war im neutralen Schweden, wird Astrid Lindgren zur Schriftstellerin. Kann man das so sagen?
    Rávic Strubel: Ihr wird bewusst, dass sie vielleicht durch eine bestimmte Art zu schreiben oder durch eine bestimmte Art, auch Kindheit zu betrachten, so eine Art Engagement für den Frieden entwickeln kann oder so etwas. Ich glaube, mehr noch als einfach, dass sie schreiben möchte, wird ihr bewusst, dass sie damit auch was bewirken kann.
    Wie viel hat man in Schweden gewusst?
    Hondl: "Die Menschheit hat den Verstand verloren." Schon der Titel dieser deutschen Ausgabe der Tagebücher deutet ja auch an, dass Astrid Lindgren die Gräuel des Zweiten Weltkriegs schon ziemlich nahe gegangen sind. Nun hat sich aber doch gleichzeitig das offizielle Schweden lange ziemlich schwergetan mit allem, was mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat. Von den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis - daran erinnern Sie ja auch in Ihrem Vorwort - wollte man in Schweden erst nach der Befreiung durch die Alliierten erfahren haben. Inwiefern zeigt sich in den Tagebüchern jetzt auch, dass man in Schweden damals durchaus wissen konnte, was da geschah?
    Rávic Strubel: Ja, sie hat sehr viel mitbekommen. Sie hat sich intensiv damit beschäftigt. Sie hat fast so eine Obsession entwickelt. Sie hat ja auch unzählige Zeitungsartikel gesammelt, hatte auch einen besonderen Zugang natürlich, weil sie für den Geheimdienst gearbeitet hat. Sie hat in der Briefzensur-Zentrale gesessen und deutsche Briefe gelesen oder Briefe, die nach Deutschland gingen und aus Deutschland kamen.
    Hondl: Also hatte sie schon Zugang zu Informationen, die nicht jeder bekommen konnte?
    Rávic Strubel: Genau. Es waren alle Arten von Briefen, Briefe von Soldaten, Briefe von Frauen, die zuhause waren, Briefe auch von Juden, die irgendwie auf der Flucht waren und ihre Angehörigen gesucht haben. Sie hat im Grunde das ganze Spektrum in diesen Briefen mitbekommen und hatte dadurch auch noch mal einen tieferen Einblick. Aber auch jenseits davon konnte man in Schweden schon 1941 spätestens wissen, dass es so was wie Konzentrationslager gab. Dieses Wissen hatte sie aus einem Zeitungsartikel. Es gab auch einen Historiker, der schon 1942 von der Ausrottung der Juden gesprochen hat. Also man konnte das schon wissen. Ich glaube aber, dieses Thema ist so eines der schwierigen Themen in der schwedischen Gesellschaft. Es ist ja auch wieder eine große Diskussion ausgebrochen mit Erscheinen dieser Tagebücher darüber, wie viel man eigentlich gewusst haben kann.
    Hondl: Inwiefern meinen Sie denn, Frau Rávic Strubel, ändert sich mit diesen Tagebüchern was an unserem Bild von Astrid Lindgren, die ja viele wahrscheinlich als die Kinderbuchautorin, die schwedische Idylle beschreibt, kennen?
    Rávic Strubel: Ja, man kennt immer dieses Bild der unbeschwerten freundlichen, schon auch moralisch wegweisenden Autorin. Aber ich glaube, durch diese Tagebücher wird eine Seite deutlich, die man in manchen Kinderbüchern ahnt, aber die sie selber nie thematisiert hat, nämlich eine Düsterkeit oder auch eine Desillusionierung. Und die Art, wie sie auf die Welt guckt in diesen Kriegstagebüchern, zeigt auch so ein Gespür von der Machtlosigkeit, oder es hört sowieso nie auf, es wird immer Krieg sein, Frieden ist etwas, was es nicht gibt. Es ist im Grunde so eine Verzweiflung und gegen die Verzweiflung hat sie wahrscheinlich auch ihr ganzes Leben angearbeitet und angeschrieben.
    Hondl: Vielen Dank. - Antje Rávic Strubel war das über die Kriegstagebücher von Astrid Lindgren, die heute mit einem Vorwort von Antje Rávic Strubel im Ullstein-Verlag erschienen sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Astrid Lindgren: "Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher von 1939-1949", Ullstein 2015, 576 Seiten, 24 Euro.