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Kriminalroman
Das Böse in all seinen Grausamkeiten

Der 1956 in Padua geborene Massimo Carlotto saß wegen Mordes lange Jahre im Gefängnis - zu Unrecht, wie sich später herausstellte. Seit mehr als zehn Jahren veröffentlicht er Kriminalromane, die durch ihren rauen, lakonischen Ton aus der Masse herausstechen.

Von Wiebke Porombka | 04.12.2013
    "Die Wölfe strichen unter dem Riesenrad entlang und näherten sich gegen den Wind der Autoscooter-Anlage. Rasch und sicher liefen sie durch das hohe Gras, das jetzt im Frühherbst schon gelb wurde. Bald würde das Gelb in das ungesunde Rot der Baumstämme umschlagen oder in das geronnenem Blut gleiche Dunkelrot des Rostes, der die Metallteile des Rummelplatzes bedeckte. Erst der Schnee würde Mitleid mit dem verlassenen Park haben und ihn für einige lange Monate mit einer weißen Decke überziehen."
    Nicht in Marseille, wie der Titel vermuten lässt, sondern in Prypjat lässt Massimo Carlotto seinen jüngsten Krimi beginnen. Prypjat, ehemals Heimat von fast 50.000 Menschen, seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nur mehr noch eine von allen Einwohnern verlassene Geisterstadt. Wie ein bitterböses Mahnmal, das von der dunklen, verheerenden Rückseite der Zivilisation kündet, mutet allen voran der ausgestorbene, zerfallene Rummelplatz an, über den bei Carlotto unheilverheißend die Wölfe streifen. Am 1. Mai 1986 hätte der Vergnügungspark eröffnet werden sollen. Am 26. April explodierte wenige Kilometer weiter der Reaktor.
    "Die Wölfe duckten sich zwischen die Scooter und beobachteten die Hirsche, die aus einem großen Becken tranken. Einst mochte das ein Brunnen voll sprudelnder Wasserspiele gewesen sein. Dann und wann hoben die Männchen ihre mit Geweihen gekrönten Köpfe und schnupperten nach Raubtieren, doch um ihre Nasen strich nur ein leichter Westwind."
    Nicht den Wölfen aber werden die Hirsche gleich zum Opfer fallen, sondern den Menschen. Ein Geländewagen fährt heran, Männer mit Kalaschnikows im Anschlag springen heraus und erschießen die Hirsche. Wie Jäger muten sie nicht an, eher wie russische Mafiosi oder Freischärler, denen das Töten eine grausame Freude bereitet. Auch die Wölfe finden keine Gnade vor ihrer Lust. Auch sie werden regelrecht hingerichtet.
    Es ist ein symbolisches Bild, das Massimo Carlotto an den Anfang eines Krimis stellt, in dem der italienische Beststellerautor über ein weltumspannendes Geflecht von Kriminalität erzählt. Von Wirtschaftsverbrechen über politische Verschwörungen bis hin zu Drogenhandel und Prostitution in Straßen und Hinterzimmern ist in dieser Welt alles versammelt. Hinter jedem Verbrecher steht gleich der nächste und ganz hinten stehen die eigentlichen Strippenzieher, Geschäftsleute im feinen Zwirn, aber ohne auch nur einen Funken Moral, die Organhandel betreiben oder Geschäfte mit verseuchtem Holz machen und denen es immer wieder gelingt, ihr schmutziges Geld mit noch schmutzigeren Methoden vermeintlich rein zu waschen.
    In Marseille laufen alle Fäden zusammen
    Marseille wird zu jenem Ort, an dem die Fäden all dieser Verbrechen zusammenlaufen, allerdings nur, um sich noch einmal enger zu verknoten. Im Mittelpunkt steht bei Carlotto ein Quartett aus ehemaligen Leeds-Studenten, Kinder aus reichem Hause und eminent kluge Köpfe, drei Männer und eine Frau, die sich gemeinsam dem perfekten Verbrechen verschrieben haben. Fast rührend ist diese Gruppe bei all ihrer Abgebrühtheit, weil sie es gleichzeitig zu schaffen scheint, bedingungslose Freundschaft und absolutes Vertrauen zu bewahren, während diese Tugenden doch in ihren Kreisen nicht nur keinen Wert haben, sondern – umgekehrt – man mit ihnen das eigene Leben aufs Spiel setzt.
    Denn trauen sollte man besser niemandem in dieser Gesellschaft, wie Carlotto sie uns vor Augen führt. Zwischen Gut und Böse ist hier längst nicht mehr zu unterscheiden. Die Polizei macht mit den Verbrechern gemeinsame Sache, wenn es den Ermittlungen dient. Und wer nicht mitspielt, wird mit Methoden gefoltert, die sich von denen der Mafia keinen Deut unterscheiden.
    Die eigenwilligste und prägnanteste Figur entwirft Carlotto mit der Polizistin Bernadette Bourdet, genannt B.B. – der blanke Hohn allerdings ist diese Reminiszenz an Brigitte Bardot: B.B. ist eine unansehnliche, derbe, an ihrer Einsamkeit leidende Kommissarin, die auf ihrem Karriereweg über die politischen Größen der Stadt gestolpert ist, deren dunkle Machenschaften sie aufdecken wollte. Nun stillt sie ihren Hunger nach Liebe mit käuflichem Sex und führt einen halb wütenden, halb resignierten Kampf gegen Kriminalität und Establishment gleichermaßen.
    Das Verbrechen scheint in dieser Welt, wie Carlotto sie erzählt, allgegenwärtig, Marseille mutet nur wie ein zufälliger Ausschnitt aus dieser Welt an. Würde man über einen anderen Ausschnitt erzählen, wäre das Bild ein Ähnliches.
    Als Befund über die Gegenwart mag das fatalerweise stimmen. Als Grundlage für einen Kriminalroman indes ist dieser Befund etwas heikel. Bedauerlicherweise zerfasert "Die Marseille-Connection" in unzählige kleine Episoden, Gewaltakt reiht sich an Gewaltakt, das Personal ist für den Leser bald ähnlich schwer zu überblicken, wie es das für Marseilles Ordnungshüter in den Straßen und Gassen der Hafenstadt ist. Massimo Carlotto, ein Meister darin, dem Bösen eine in all ihrer Grausamkeit betörende Physiognomie zu verleihen, hat mit "Die Marseille-Connection" leider einen etwas gesichtslosen Roman geschrieben. Da Massimo Carlotto aber fast jedes Jahr ein neues Buch vorlegt, muss man auf sein nächstes kriminalistisches Meisterwerk sicher nicht allzu lange warten.