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Krise des ökonomischen Denkens

Staatliche Impulse fürs Wirtschaftswachstum - die Amerikaner machen davon seit Jahren ohne große ideologische Scheuklappen Gebrauch. Bei uns ist das anders: Abgesehen davon, dass dafür gerade das Geld in der Kasse fehlt, gibt es hierzulande auch nicht mehr viele, die einer Wirtschaftspolitik à la Keynes das Wort reden. Nicht viele Wirtschaftswissenschaftler, zumindest. Die US-Fachzeitschrift International Economy konnte sie an einer Hand abzählen und nannte sie deshalb auch die "Gang of Five", Die Fünferbande. Zur Fünferbande gehören: Peter Bofinger, Rudolf Hickel, Heiner Flassbeck, Albrecht Müller und Gustav Adolf Horn. Dessen neues Buch werden wir gleich vorstellen, erst aber noch ein paar Informationen zur Person: Der Konjunkturexperte hat 18 Jahre beim berühmten DIW gearbeitet, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Danach hat er das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung mit aufgebaut. Brigitte Baetz über "Die Deutsche Krankheit" – so der Titel seines neuesten Buches.

Von Brigitte Baetz | 01.08.2005
    Deutschland befindet sich nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise, sondern in einer Krise des ökonomischen Denkens, schreibt Gustav Horn. Der Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung greift damit weniger die Politik an als vielmehr seine Kollegen aus der Wirtschaftswissenschaft. Denn wo man auch hinschaut, alle raten zu Einschnitten ins soziale Netz, zu Steuersenkungen und Lohnzurückhaltung. Nicht so Gustav Horn. Er möchte beweisen, dass diese Ratschläge auf einer fehlerhaften Analyse und einem falschen Lösungsansatz beruhen.

    "Die gängigen theoretischen Vorstellungen stehen [...] vor einem Phänomen, das sie nicht überzeugend zu erklären vermögen. Das ist die tiefe Spaltung der Konjunktur in Deutschland in eine lahmende Binnenwirtschaft und eine dynamische Exportkonjunktur. Sie widerspricht der These von der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit aufgrund zu hoher Löhne eklatant. Wie können die Löhne zu hoch sein, wenn sich die Produkte aus Deutschland mit steigenden Gewinnen so gut auf den Weltmärkten verkaufen lassen und auf der anderen Seite die Einkommen im Inland sich so schwach entwickeln, dass keine finanzielle Basis für einen höheren Konsum vorhanden ist? "
    In der Tradition von John Maynard Keynes misstraut Gustav Horn einzelwirtschaftlichen Erklärungsmustern, wie sie aus seiner Sicht von den angebotsorientierten Ökonomen vorgebracht werden. Der Markt könne sich nicht selbst regulieren. Horn diagnostiziert eine eklatante Nachfrageschwäche, die dringend überwunden werden müsse, um die Konjunktur wieder auf Trab zu bringen. Dass immer nur die Lohnnebenkosten als Wurzel allen Übels herhalten müssen, hält er für kontraproduktiv.

    "Das ist eine sehr beliebt These und da wird auch angedeutet, dass die Lohnnebenkosten letztlich niemandem nützen. Für die Unternehmen sind sie Kosten, das ist richtig und auch für den Arbeitnehmer sind sie ja Kosten, denn das ist das, was er in seinem Portemonnaie letztlich nicht sieht im Unterschied zum Bruttoeinkommen. Es ist aber so: Dieses Geld wird ja nicht irgendwo vergraben, sondern dieses Geld geht eben an diejenigen, die gerade dieses soziale Risiko Krankheit oder Rente oder Arbeitslosigkeit erleben. Es wird also ausgegeben und das Geld kommt auch auf diese Art und Weise wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück. "

    Das Zweite ist: Wie haben sich denn die Lohnnebenkosten entwickelt und haben sie die Arbeitskosten zu stark nach oben getrieben. Das ist nicht der Fall. Die Arbeitskosten in Deutschland unter Einschluss dieser Lohnnebenkosten sind in den letzten zehn Jahren im internationalen Vergleich sehr maßvoll gestiegen, haben sie nicht zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit geführt.
    Wer die sozialen Sicherungssysteme reformieren will, muss nach Ansicht von Gustav Horn für ein Anspringen der Konjunktur und eine höhere Beschäftigung sorgen und nicht durch das Drücken der Löhne sowohl die Konjunktur abwürgen als auch die Sozialkassen zusätzlich belasten. Horn plädiert nicht gegen Reformen, sondern dafür, dass die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge stärker betrachtet werden. Reformen
    nützen nichts, wenn nicht gleichzeitig die Konjunktur anspringt.

    "Wichtig ist generell nur, dass die konjunkturellen Impulse, die von diesen Eingriffen ausgehen, berücksichtigt werden. Die Wachstumseffekte, die man sich von Reformen erwartet, realisieren sich zumeist nicht kurzfristig, sondern erst auf längere Sicht, weil sich die Menschen erst langsam darauf einstellen, wie es zum Beispiel bei der Reform der Rentenversicherung der Fall sein dürfte. "

    Gustav Horn verwendet im ersten Teil seines Buches viel Zeit darauf, die seit über fünfzehn Jahren andauernde wirtschaftliche Stagnation in Deutschland zu analysieren und in Bezug zu setzen zur Situation in anderen europäischen Ländern. Das Ergebnis - Deutschland hat kein Wettbewerbs-, sondern ein Binnenmarktproblem - ist zwar in sich schlüssig. Es bildet jedoch für Leser, die nicht einschlägig vorgebildet sind, eine anstrengende Lektüre. Vor allem das volkswirtschaftliche Vokabular macht es nicht immer leicht, den Gedankengängen zu folgen. Das ist schade, denn gerade, weil Horn gegen den öffentlich wirksamen ökonomischen Mainstream anschreiben will, wäre hier mehr Verständlichkeit wichtig gewesen. Anders sieht es allerdings im zweiten Teil aus, in dem der Autor die in seiner Sicht verfehlte bisherige Wirtschaftspolitik kritisiert und seine eigenen Vorschläge dagegenhält. Jede weitere Verschuldung krampfhaft zu vermeiden, schade der Konjunktur, findet Horn – und bezeichnet das als "Konsolidierungsirrtum".
    "Diese Überlegungen kranken an einem gedanklichen Fehler. Sie unterstellen, dass die Schulden des Staates irgendeiner zukünftigen Periode vollständig zurückgezahlt werden müssen. Dafür müssten dann entsprechend die Steuern erhöht werden. Dies entspricht aber nicht der Wirklichkeit. Aufgrund der – etwas übertrieben – unendlichen Lebenserwartung der Staaten können die Schulden auch immer weitergewälzt werden. Dies ist so lange kein Problem, als es gelingt, Wachstum zu erzeugen und damit zusätzliche Einkommen, aus denen Schulden bedient und getilgt werden können. "

    Aber ist Wachstum heute noch möglich? Und ist es wünschenswert? Es gibt Ökonomen, die das bezweifeln. Und Ökologen halten Wachstum gar für schädlich. Gustav Horn sieht das anders.

    "Prinzipiell ist es möglich, dass man Wachstumsraten hat in der Gegend von zwei, zweieinhalb, drei Prozent und das wäre schon ein Wachstum, mit dem wir unseren Sozialstaat mühelos finanzieren könnten. Das zweite, ökologische Argument halte ich für falsch, insofern dahinter die falsche Vorstellung steht, dass wir immer mehr vom Gleichen haben wollen. Das wäre natürlich absurd und wahrscheinlich auch schädlich, aber Wachstum ist in Wahrheit immer mehr von Neuem. Das kann man daran festmachen, dass man einmal selber überprüft, welche Ausgaben man vor zehn Jahren getätigt hat. Telekommunikationsdienstleistungen hatten einen wesentlich geringeren Anteil als heute. Das heißt wir kaufen immer neue Dinge und daraus entsteht Wachstum und diese neuen Dingen sollten möglichst auch ökologisch vertretbar sein."
    Gustav Horn fordert eine andere Wirtschaftspolitik – nicht nur, was Schulden angeht. Auf internationaler Ebene würde er am liebsten Finanzspekulationen erschweren und Steueroasen sanktionieren, um Kapital in den Ländern zu binden. Ein stabileres globales Währungssystem könnte zusätzlich Wachstum sichern. Die Löhne müssten sich wieder stärker an der Produktivität orientieren statt zu sinken. Der Arbeitsmarkt müsse neue Anreize erhalten, beispielsweise durch die steuerliche Absetzbarkeit aller Kosten, die mit der Kinderbetreuung und Haushaltsführung zu tun haben. Dies könnte neue Arbeitsplätze gerade für weniger gut Ausgebildete schaffen. Und die sozialen Sicherungssysteme müssten konsolidiert werden, gerade weil Sicherheit besonders wichtig sei, wenn die Menschen immer flexibler handeln müssten. Diese Vorschläge sind natürlich differenzierter, als sie hier wiedergegeben werden können. Und sie sind es wert, diskutiert zu werden - gerade weil in den letzten Jahren in Deutschland alles, was nur entfernt nach Keynesianismus aussah, pauschal als altmodisch und weltfremd abgetan wurde. Im Ausland ist die wirtschaftspolitische Debatte wesentlich undogmatischer und die Wirtschaftspolitik vielleicht auch aus diesem Grund in mancher Hinsicht erfolgreicher. Man wünscht diesem teilweise schwierigen Buch deshalb möglichst viele Leser.

    Gustav A. Horn: Die deutsche Krankheit. Sparwut und Sozialabbau. Thesen gegen eine verfehlte deutsche Wirtschaftspolitik. Das 197 Seiten dicke Buch ist erschienen bei Carl Hanser in München und kostet 19 Euro 90.