Dienstag, 23. April 2024

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Krise in Venezuela
Caritas: Sanktionen verschärfen humanitäre Situation zusätzlich

Die EU und die USA haben neue Sanktionen gegen die Regierung von Nicolás Maduro in Venezuela verhängt. Aus humanitären Gründen sei es dringend geboten, diese Sanktionen aufzuheben, sagte Oliver Müller, Chef von Caritas im Dlf. Die USA müssten klarmachen, dass eine militärische Intervention nicht geplant sei.

Oliver Müller im Gespräch mit Sarah Zerback | 26.09.2019
Ein Demonstrant mit einem Plakat bei einer Kundgebung gegen die neuen US-Sanktionen
Ursächlich für Krise in Venezuela ist das Missmanagement und die Korruption, die seit vielen Jahren herrscht, sagt Oliver Müller von Caritas (dpa / Boris Vergara)
Sarah Zerback: Seit Monaten ist Venezuela ein Land mit zwei Präsidenten: dem gewählten Sozialisten Nicolas Maduro und dem selbsternannten Juan Guaido. Beide kämpfen um die Macht im Land, mit internationaler Unterstützung, und da verlaufen die Konfliktlinien ein bisschen wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Die EU und auch die USA haben die Sanktionen gegen die Regierung Maduro jetzt noch einmal verschärft, während Russland Maduro gleichzeitig stärkere Hilfen zugesagt hat. Mittendrin nun die Zivilbevölkerung, die unter der politischen, wirtschaftlichen und humanitären Krise leidet.
Ein Bild davon machen konnte sich Oliver Müller, Leiter von Caritas International, vor kurzem. Studierter Theologe und Politikwissenschaftler ist er auch. Guten Morgen, Herr Müller.
Oliver Müller: Guten Morgen, Frau Zerback.
Mindestlohn beträgt 1,80 Euro im Monat
Zerback: Die politische Debatte, dringt die überhaupt zur notleidenden Bevölkerung im Land durch, oder ist die zu sehr damit beschäftigt, schlicht zu überleben?
Müller: Sie muss erst mal versuchen, das Überleben sicherzustellen, und was die Bevölkerung am meisten spürt, ist zunächst mal die Hyper-Inflation, die es im Land gibt, die selbst nach konservativsten Schätzungen 135.000 Prozent in den letzten zwölf Monaten betrug. Das hat zur Folge, dass der Mindestlohn umgerechnet 1,80 Euro im Monat beträgt, und damit kann man auch in Venezuela überhaupt nicht überleben.
Zerback: Woran mangelt es da am allernötigsten?
Müller: Überraschend ist zu sehen, dass es durchaus in den Läden Dinge zu kaufen gibt, die Menschen sich es allerdings nicht leisten können. Weil wie gesagt: Mit 1,80 Euro bei Preisen wie in Deutschland beziehungsweise noch höher geht das nicht. Und das staatliche ergänzende Versorgungssystem, das es gab, ist in den letzten Monaten eigentlich auch in sich zusammengebrochen. Von sechs Millionen Menschen, die der Staat eigentlich versorgen wollte, werden momentan noch zwei Millionen versorgt. Das heißt, die meisten Menschen sind in der Tat damit beschäftigt, den Tag damit zu verbringen, irgendwie ihr Überleben sicherzustellen.
Zerback: Das mag dem einen oder anderen gar nicht so gut gelingen. Welche gesundheitlichen Folgen haben Sie denn beobachtet, von dieser Mangelernährung ja wahrscheinlich auch?
Müller: Es gibt eine große Mangelernährung. Die Caritas Venezuela hat selber Untersuchungen durchgeführt und festgestellt, dass von den Kindern unter fünf Jahren, mit denen sie in ihren Programmen in Kontakt steht, nur 31 Prozent einen guten Ernährungszustand hatten. Beim Rest waren schon Merkmale der Unterernährung festzustellen.
Was die Sache noch schwieriger macht ist, dass die Krankenhäuser auch in einem miserablen Zustand sind. Fast 70 Prozent haben keine durchgehende Stromversorgung. Es sind nachweislich mehrere tausend Menschen in den letzten Monaten ums Leben gekommen, einfach weil der Strom in den Krankenhäusern ausgefallen ist. Auch Wasserversorgung ist dort unklar, Medikamente gibt es kaum noch. Das gesamte Gesundheitssystem ist auch in Auflösung begriffen.
Öffentliches Leben erstirbt mit Anbruch der Dunkelheit
Zerback: Wie haben Sie sich denn vor Ort überhaupt fortbewegt? Wir erinnern uns: Vor kurzem war es ja noch gar nicht einfach, überhaupt ins Land hineinzukommen. Sie haben sich jetzt an mehreren Orten ein Bild von der Lage machen können. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Müller: Auf den ersten Blick ist im Großraum Caracas noch ein normales Leben. In der Provinz sieht es allerdings ganz anders aus. Dort erstirbt das öffentliche Leben mit Einbruch der Dunkelheit – auch deshalb, weil sich die Sicherheitssituation so verschärft hat. Venezuela ist heute das Land mit der höchsten Mordrate weltweit und hat den bisherigen Spitzenreiter El Salvador abgelöst, und das ist ein Indiz dafür, dass es immer mehr bewaffnete Gruppen gibt, die durch Drogenhandel, Schmuggel, Erpressung versuchen, das Auskommen ihrer Mitglieder zu sichern. Die öffentliche Sicherheit hat extrem abgenommen.
Zerback: Stichwort Infrastruktur. Es gibt ja schon viele Hilfszusagen, internationale Hilfslieferungen, auch von der Caritas natürlich. Haben denn diese Hilfen, die Lebensmittelpakete eine Chance, die Menschen zu erreichen?
Müller: Ja, die humanitäre Hilfe wurde in der Tat ziemlich politisiert, auch gerade in dem Konflikt zwischen Maduro und Guaido. Das ist sehr negativ. Wir haben eigentlich das Phänomen in Venezuela, dass es verhältnismäßig wenig Hilfsorganisationen gibt, weil Venezuela kein klassisches Land der Entwicklungshilfe war. Es ist das Land mit den größten Erdölvorkommen der Welt, das jetzt aber in Auflösung begriffen ist. Wir bringen dort auch von der Caritas aus keine Hilfsmittel ins Land, sondern geben den Familien Geldkarten, die mit 15 Dollar pro Woche aufgeladen sind, und damit können sie sich in Läden, mit denen wir Abkommen haben, genau das kaufen, was sie brauchen – sehr angepasst und das funktioniert auch gut. Und noch dazu kann man über diese Geldkarten dem Problem der Inflation Herr werden, weil jede Geldsumme, die man jemand in die Hand drückt, ist ja am folgenden Tag schon weniger wert.
Sanktionen sind nicht ursächlich für die Krise
Zerback: Vielleicht auch ein Mittel, um zu verhindern oder sicherzustellen, dass gerade diese Hilfe nicht als politisches Druckmittel, wie Sie sagen, benutzt wird. – Lassen Sie uns in dem Zusammenhang mal auf die Sanktionen gucken. Die schärfsten kommen ja aus den USA. Welchen Anteil haben die denn an der humanitären Krise?
Müller: Man muss klar sagen, dass die Sanktionen nicht ursächlich für die jetzige Krise sind. Das ist das Missmanagement, das ist die Korruption, die in der Regierung Venezuelas seit vielen Jahren herrscht. Es ist ja ein potenziell reiches Land. Es besteht für mich aber auch kein Zweifel daran, dass die Sanktionen die Situation noch mal wesentlich verschärft haben. Es gibt eine unabhängige Studie, die von bis zu 40.000 Toten im Zuge der Sanktionen ausgeht. Das ist schwer nachzuvollziehen, aber es ist sichtbar im täglichen Leben in Venezuela, dass die Sanktionen die Situation noch mal zusätzlich verschärfen. Es wäre unter humanitären Gesichtspunkten dringend geboten, die Sanktionen aufzuheben. Es wäre dringend geboten, dass die USA klarmachen, dass eine militärische Intervention nicht auf der Tagesordnung steht. Und dann muss man letztlich auf politische Verhandlungen setzen, damit sich die Situation doch irgendwann verbessert.
Zerback: Sie haben sich ja auch über die menschenrechtliche Situation vor Ort ein Bild gemacht. Der Menschenrechtsrat spricht ja von außergerichtlichen Hinrichtungen, willkürlichen Tötungen, Folter. Das ist ja auch ein Grund für Sanktionen, zum Beispiel für das Verbot für den Export von Waffen, die da gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden können. Haben Sie auch über diese Vorwürfe vor Ort sprechen können?
Müller: Ich habe mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen gesprochen, die all diese schlimmen Vorwürfe, die Sie gerade auch angesprochen haben, durchaus bestätigt haben. Es gibt mehrere paramilitärische Gruppen zum Beispiel im Land, die zum Teil in Abstimmung mit der Regierung, aber zum Teil auch völlig losgelöst davon agieren, schwerste Menschenrechtsverletzungen begehen. Es wurde mir immer wieder gesagt, dass Urteile der Gerichte missachtet werden und Polizei, Militär Menschen inhaftiert, auch wenn es dafür keine Urteile gibt oder die schon auf die Freilassung ausgegangen sind. Das ist eine extrem unsichere Situation, was die Menschenrechte betrifft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.