Donnerstag, 18. April 2024

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Kristijonas Donelaitis: "Die Jahreszeiten"
Eine Ohren öffnende Lektüre

Man hört sofort, wie nahe Musik und Dichtung hier beieinander liegen: Das Sprachkunstwerk "Die Jahreszeiten" wurde vom Litauer Kristijonas Donelaitis im 18. Jahrhundert verfasst. 1977 nahm es die Unesco in die Bibliothek der literarischen Meisterwerke auf. Eine Lektüre, die heute noch Freude bereitet.

Von Sabine Peters | 10.01.2018
    Blick über die Landschaft am ehemaligen Friedrichsgraben, heute Polesskij Kanal, bei Polessk, früher Labiau, am 02.09.2002. Pollesk liegt heute im zu Russland gehörenden Kaliningrader Gebiet - im früheren Ostpreußen.
    Der Raum im Nordosten Preußens wurde seit dem 15. Jahrhundert mehrheitlich von einwandernden Litauern besiedelt. (picture alliance / dpa / Tom Schultze / Transit)
    Das nordöstliche Ostpreußen war Mitte des 18. Jahrhunderts nur dünn besiedelt; denn große Teile der litauischen Bevölkerung waren in der Zeit um 1710 einer Pestepidemie zum Opfer gefallen. Um die verarmte Gegend zu entwickeln, ließ die preußische Regierung die Einwanderung von Deutschen, Polen und französischsprachigen Schweizern zu. Dieses Völkergemisch mit unterschiedlichen Sitten und Gebräuchen bot natürlich Anlass für Konflikte.
    Der Litauer Kristijonas Donelaitis, der von 1714 bis 1780 lebte, war ein lutherischer Pfarrer. Er folgte dem reformatorischen Grundsatz, wonach die Christen das Evangelium in ihrer Muttersprache hören sollten. Donelaitis wollte seine Predigten lebendig gestalten; daher verfasste er mitunter in litauischer Sprache Dichtung Hexameter; und mit diesen fließenden Versen unterhielt und belehrte er seine Gemeinde. Donelaitis erzählt in dieser Dichtung Szenen aus dem bäuerlichen Arbeitsleben, er erinnert an Plackereien, Feste, Prügeleien, Gaunereien. Und er ermahnt seine Leute zu Ordnung und Frömmigkeit. Das Sprachkunstwerk "Die Jahreszeiten" gilt als der erste litauische Beitrag zur Weltliteratur, und die UNESCO nahm das Buch 1977 in die Bibliothek der literarischen Meisterwerke auf.
    Inhaltlich geht es handfest zu
    Kann Donelaitis heutigen Lesern, die ja meist Städter sind, noch etwas sagen? Der Ausdruck "Landleben" lässt uns heute, realistisch betrachtet, wohl vor allem an Schweinemastanlagen und endlose Maisfelder denken. Doch unser kulturelles Gedächtnis, angefangen bei der Bibel und den Märchen, ist noch tief geprägt von Bildern aus früheren Zeiten, in denen Flachs gesponnen und Vieh zur Weide getrieben wurde. Daher fällt es nicht schwer, in eine Welt einzutauchen, die für Donelaitis und seine Zeitgenossen Alltag war.
     
    Die Lektüre zeigt: Dieser Landpfarrer ist ein bodenständiger, herzhafter Aufklärer, und sein Protestantismus ist lebensnah und praktisch. Er denkt im Sinne Martin Luthers, also nicht gerade aufrührerisch: Ein Landesfürst hat eine Verpflichtung gegenüber seinen Untertanen, und diese wiederum sollen gottgefällig und vernünftig leben. Frühling, Sommer, Herbst und Winter bringen unterschiedliche Freuden und Schwierigkeiten, die Mensch und Tier betreffen. In seinen Versen gibt Donelaitis Gespräche unter den Vögeln wieder, deren Federkleider nach einem harten Winter zwar zerrauft sind, die aber im Frühjahr wieder singen. Er spricht in seiner Dichtung mit Gott und der Welt, einschließlich dem Federvieh; und so heißt es im Herbst:
    "Kommt, ihr Hähne und Hennen, die ihr im Misthaufen stochert,
    lauft herbei, beeilt euch, nochmal gehörig zu schwelgen.
    Meint aber nicht, dass wir euern lieblichen Stimmen zuliebe,
    euern Chorälen zuliebe euch hegen und füttern! Oh nein, nur
    wegen eures Fleisches ertragen wir Schnattern und Gackern."
    Diese Lektüre öffnet die Ohren: Man hört sofort, wie nahe Musik und Dichtung hier beieinanderliegen. Dabei geht es inhaltlich sehr handfest zu. Das Landleben ist keine Idylle, und wer Speck essen will, muss erst Schweine treiben.
    Davon haben die Städter keine Ahnung.
    "Gockel sind sie! Wenn sie irgendwo farbige Schuhe
    oder blitzende ratternde Kutschen sehen, dann sind sie
    sicher, dass man nur als prächtig gekleideter Engel,
    der in himmlischer Faulheit lebt, ein richtiger Herr ist."
    Leicht dahinfließende Verse
    Auch die zugezogenen Polen und Deutschen bringen Sitten mit, die den Litauern missfallen. Aber Donelaitis erklärt: Flegel und verschlafene Holzköpfe gibt es überall. Wir alle sind hilfs- und ratbedürftig. Als erwachsener Mensch soll man seinen Teil an der allgemeinen Verantwortung tragen, und wenn uns tatsächlich harte Schicksalsschläge treffen wie der Tod eines guten Amtsrats, sollen wir nicht lange winseln und klagen. Trauer darf nicht maßlos sein. Für den gläubigen Protestanten gilt es, weiter den Acker und die Tiere zu versorgen; er soll auch beizeiten Nüsse sammeln, damit die Frauen im Winter nicht vor ihrer Spindel einschlafen, sondern gelegentlich was zu knacken haben und weiter arbeiten.
    "Arbeit" ist hier nicht, wie in mittelalterlicher, vorreformatorischer Zeit, nur eine Plage und Strafe Gottes; Donelaitis begreift sie als Gesetz des Lebens, dem die Geschöpfe zu folgen haben. Er akzeptiert diese Ordnung, ohne dabei zu moralisieren.
    Die freundlichen, oft verspielten "Jahreszeiten" lassen nicht gerade an den Ausdruck "protestantische Arbeitsethik" denken. Donelaitis mahnt zwar, dass nicht alle Tage Schlachttag ist. Aber er und seine Leute wissen eben auch genau, wie gut gebrutzelte Bohnen und saftige Sachen vom Ferkel schmecken.
    Diesen Klassiker muss man auch heute nicht vom Thron holen, denn er saß nie auf einem. Die leicht dahinfließenden Verse von Donelaitis sind durch ihre bildhafte Ausdruckskraft bis hinein in die Übersetzung springlebendig geblieben. Das macht die Lektüre zu einer Freude.
    Kristijonas Donelaitis: "Die Jahreszeiten".
    Aus dem Litauischen von Gottfried Schneider
    Verlag Langewiesche-Brandt. 128 Seiten, 14,80