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Kritik am Antragsverfahren für Hartz-IV-Bildungspaket

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) trifft sich heute mit Ländern und Kommunen, um über die schwache Nachfrage des Hartz-IV-Bildungspakets für Kinder zu beraten. Für Stephan Articus ist der Grund klar: Einzelne Antragsverfahren seien zu umständlich.

Stephan Articus im Gespräch mit Peter Kapern | 28.06.2011
    Peter Kapern: Warmes Mittagessen, kein anderer Begriff ging Sozialministerin Ursula von der Leyen vor einigen Monaten so häufig über die Lippen wie dieser. Warmes Mittagessen, mit dieser verlockenden Aussicht warb sie um Zustimmung für ihr sogenanntes Bildungspaket. Dessen Ziel: Kinder von Hartz-IV-Empfängern sollen Zuschüsse bekommen für Nachhilfe, Musikunterricht, Klassenfahrten, Vereinsbeiträge und auch für ein warmes Mittagessen in der Schule. In Kraft getreten ist diese Regelung am 1. April, ein paar Wochen später wurde eine erste Zwischenbilanz gezogen, Ergebnis: Kaum einer der Adressaten zeigte Interesse an von der Leyens Bildungspaket. - Heute wird nun ein weiteres Mal bilanziert, wenn sich Vertreter von Ländern und Kommunen mit der Ministerin in Berlin treffen.
    Bei uns am Telefon ist nun Stephan Articus, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags. Guten Morgen!

    Stephan Articus: Guten Morgen!

    Kapern: Herr Articus, es kursieren nun neue Zahlen, danach haben jetzt 27 Prozent der Leistungsberechtigten auch tatsächlich Anträge gestellt. Sind Sie mit diesen Zahlen zufrieden?

    Articus: Also, das Gesetz war ja so eine Art Sturzgeburt. Es hätte ja zur Jahresfrist, zum Jahresanfang fertig sein müssen, ist aber nicht fertig geworden. Es war im April in Kraft gesetzt, rückwirkend zum 1. Januar. Also alles ging sehr eilig, alles ging sehr kurzfristig. Und als wir dann im April begonnen haben, hatten wir festgestellt durch eine Stichprobe bei den Mitgliedsstädten des Deutschen Städtetages, dass im April nur fünf Prozent der berechtigten Familien Anträge gestellt hatten. Das war natürlich kein glorreicher Start. Aber mittlerweile haben durchschnittlich 27 Prozent Anträge gestellt, also nach acht Wochen hat sich sehr viel verändert, die Zahl ist rasch gestiegen. Das ist kein guter Start, aber das ist auch noch keine schlechte Entwicklung.

    Kapern: In Berlin haben lediglich zehn Prozent der Anspruchsberechtigten Anträge gestellt auf Leistungen aus dem Bildungspaket. Wie kommen solche regionalen Unterschiede zustande?

    Articus: Ich will mich jetzt über die Berliner Verhältnisse nicht äußern, ich kenne da die Ursachen nicht. Nach unserer Erhebung sind es unter 100 Städten im Schnitt 27 Prozent. Wir haben auch Städte, in denen sind es mehr, da sind es 33 Prozent, in anderen Städten sind es weniger, da sind es 20 Prozent. Die Unterschiede kommen natürlich zustande durch die Intensität der Informationspolitik, die betrieben wird. Aber ich glaube, insgesamt hat die Entwicklung jetzt Fahrt aufgenommen und läuft nicht so schlecht, wie es allgemein eingeschätzt wird.

    Kapern: Was muss man denn tun, um die Zahl der Anträge noch in die Höhe zu treiben?

    Articus: Ich glaube, man muss in der Tat wirklich informieren, informieren, informieren. 60 Prozent unserer Mitgliedsstädte haben sich sozusagen daran gemacht, ausnahmslos alle anspruchsberechtigten Familien über diese neuen Leistungen zu informieren. Wir haben aber auch festgestellt, dass man in den Kindergärten, in den Job-Centern, in den Jugendämtern auch darauf hinweisen muss, worin die Hilfen bestehen, damit die verschiedenen Angebote auch tatsächlich genutzt werden. Und dann gibt es auch Angebote wie zum Beispiel den ganzen Komplex der Lernförderung und der Ausstattung des Schulbedarfs, also Schulbücher und so weiter, die werden einfach so im laufenden Jahr weniger angenommen als vermutlich zum Jahreswechsel, zum Schuljahreswechsel, also vor Schuljahresende oder zu Beginn des neuen Schuljahrs, und darüber wird man auch informieren müssen.

    Kapern: Kritiker sagen, dass die bürokratischen Hürden, um an das Geld zu kommen, viel zu hoch seien, dass der bürokratische Aufwand zu komplex sei. Stimmt das?

    Articus: Also es ist so: Es ist ja entschieden worden, dass es um Sachleistungen geht, die jeweils individuell für das einzelne Kind sozusagen zusammengestellt werden, und Sachleistungen und vor allem individuell ausgestaltete Sachleistungen – also man kann entscheiden, ob man lieber in einen Musikunterricht geht, oder ob man lieber zur Sportförderung geht, oder anderes kann man auswählen – sind natürlich sehr viel schwieriger, sehr viel aufwendiger sozusagen zu platzieren als gleiche Geldleistungen für alle, die einfach über eine Kontoüberweisung regelmäßig laufen. Also der Aufwand ist groß, das haben wir alle gewusst, deswegen haben ja auch die Städte angeboten, diese Hilfeleistungen zu übernehmen, weil die am nahesten an den Familien, an den Quartieren sind, und weil sie schon Strukturen haben, um solche Hilfe- und Dienstleistungen zu verteilen, aber der Aufwand ist natürlich größer als bei Geldleistungen und noch größer bei institutionellen Leistungen, wenn man einfach eine Infrastruktur aufbaut, die für alle zugänglich ist.

    Kapern: Wie umfangreich, Herr Articus, sind denn die Formulare, die die Antragsteller ausfüllen müssen?

    Articus: Ja, die Frage ist nun nicht unberechtigt, Herr Kapern. Es ist tatsächlich so, dass einzelne Antragsverfahren und Antragspapiere zu umständlich sind. Ich mache mal ein ganz einfaches Beispiel. Sehr beliebt jetzt schon ist die Förderung von Klassenfahrten und von Schulausflügen, und dann reicht es nicht, wenn man nach dem Schulausflug, nach der Klassenfahrt sozusagen zur Behörde geht und sagt, ich war dabei, ich hole jetzt meinen Obolus dafür ab, sondern man muss vorher einen Gutschein abholen und hinterher den Gutschein umsetzen und einlösen. Das halten wir für einen unnötigen bürokratischen Aufwand. Wenn nach der Teilnahme an der Klassenfahrt eine Familie einfach den Nachweis vorlegt, dass ihr Kind dabei war, dann soll sie dafür auch ohne weiteren großen Aufwand sozusagen die Gutschrift dafür erhalten.

    Kapern: Setzt aber voraus, Herr Articus, dass die Familie auch das Geld hat, um die Kosten der Reise vorzustrecken.

    Articus: Ja, sie kann es auch vorher abholen. Aber wir sagen nur, es muss nicht sein, dass sie vorher und hinterher kommen muss, das halten wir für ein gutes Beispiel eines zu komplizierten Antragsverfahrens.

    Kapern: Aber ob diese Anträge nun vorher, oder hinterher, vor der Reise, oder nach der Reise gestellt werden, ändert ja am Umfang der Formulare nichts. Also wie gewaltig ist dieser Aufwand, den die Antragssteller betreiben müssen? Können die das?

    Articus: Ich würde sagen, dass es komplizierte Antragsverfahren auch gibt. Man muss zu viel angeben, man muss zu viele Nachweise beschaffen. Man wird das überprüfen müssen und ich denke, dass wir auch heute darüber sprechen, diese Antragsverfahren zu verkürzen und zu vereinfachen.

    Kapern: Nun hat die Ministerin von der Leyen eine Umfrage in Auftrag gegeben, und die hat ergeben, dass 19 Prozent der Anspruchsberechtigten überhaupt nicht an diesen Leistungen interessiert sind aus dem Bildungspaket, und sie sagt, an die müsse man herankommen. Haben Sie eine Idee, wie das geht?

    Articus: Ich glaube, dass es zu früh ist, um Urteile zu fällen, dass es Gruppen gibt in einer Größenordnung von 20 Prozent der anspruchsberechtigten Familien, die dann überhaupt kein Interesse daran haben.

    Kapern: Frau von der Leyen möchte gerne die Sozialarbeiter der Städte in Marsch setzen und sie die Familien besuchen lassen. Freuen die sich schon darauf, wenn die mal den Schreibtisch verlassen dürfen und ein paar Hunderttausend Haushalte besuchen dürfen?

    Articus: Ich habe diesen Vorschlag gehört. Wie er konkret aussehen soll, weiß ich noch nicht. Wir treffen uns ja heute Morgen mit der Frau Ministerin, dann wird sie das noch einmal erläutern. Aber ich glaube, sagen wir mal, der Aufwand und das Ergebnis müssen in einer vernünftigen Relation zueinander sein, und wenn man einen zehn Euro, sagen wir mal, Teilhabe-Gutschein, oder eine Gutschrift für Schulförderung, für Nachhilfeunterricht pro Monat platzieren will, wird man schon im Mitteleinsatz vernünftig sein müssen und nicht Sozialarbeiter den Kindern hinterherschicken. Ich kann mir das nicht vorstellen, dass das ein ernsthafter Plan ist, es sei denn, es sind wirklich Familien in großen Schwierigkeiten, die auch wegen ihrer Schwierigkeiten nicht mehr in der Lage sind, sozusagen die verfügbaren Hilfen in Anspruch zu nehmen. Dann sollte man helfen.

    Kapern: Stephan Articus war das, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Articus, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Articus: Gerne geschehen. Auf Wiederhören!


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