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Kritik an Heldenberichterstattung
Weniger Glorie, mehr Gehalt

Mutige Pflegekräfte, die sich aus Liebe für die Gesellschaft aufopfern? Diese mediale Darstellung findet Marina Weisband gefährlich - denn sie lenke von dem ab, was wirklich wichtig sei.

Von Marina Weisband | 15.04.2020
Solidaritätsbekundung für Krankenhaus- und Supermarktpersonal auf einem Transparent an einer Hauswand in Berlin-Kreuzberg
Viele Medien berichten über Solidaritätsaktionen für systemrelevante Berufe. Aber berichten sie auch ausreichend über den Berufsalltag? (www.imago-images.de)
Applaus, Applaus! An den Fenstern klatschend danken wir den Angestellten im medizinischen Sektor für ihren heldenhaften Einsatz. Ende März sitzt die Krankenschwester Yvonne Falckner bei Maybrit Illner und wird dort mit Glorie überschüttet: Sie sei systemrelevant, eine Heldin, mache einen "Mörderjob".
Boris Johnsons medienwirksamer Dank an Pflegekräfte
Als Boris Johnson aus dem Krankenhaus entlassen wird, nimmt er am Ostersonntag eine rührselige Ansprache auf, in der er namentlich den Pflegekräften dankt, die ihn betreut haben. Diese Krise, sagt er, könne nur durch den persönlichen Mut der Angestellten überwunden werden, die sich trotz der Gefahr entschieden, zur Arbeit zu gehen. Der National Health Service sei unbesiegbar. Denn er sei angetrieben von Liebe.
Anerkennung für den Beruf von Pfleger*innen – auch Ärzt*innen, Supermarktangestellten und anderen, die gerade in der ersten Reihe stehen – ist wichtig. Doch diese Beförderung zum Heldentum, die man im Moment in vielen Artikeln und Beiträgen findet, kann gefährlich sein.
Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3, aufgenommen im Rahmen der Protestaktion Extinction Rebellion am Grossen Stern an der Siegessaeule in Berlin, 08.10.2019.
Warum Heldinnengeschichten ankommen
Seenotrettung bekommt dank der Seawatch-Kapitänin Carola Rackete mehr Aufmerksamkeit. Medien bräuchten Heldinnen und Helden, an denen Geschichten erzählt werden könnten, sagte der Medienethiker Alexander Filipovic.
Denn von Helden erwartet man, dass sie sich opfern. Helden feiert man dafür, dass sie es freiwillig tun. Angestellte im medizinischen Bereich, in Supermärkten, in der Pflege, wollen sich nicht "freiwillig opfern". Es ist ihr Job.
Dieses Heldentum ist unfreiwillig
Die einzige Wahl, vor der sie stehen, ist, zu bleiben oder zu kündigen. Und selbst das Kündigen kann bei medizinischem Personal wirkungslos sein, wenn NRW gerade darüber nachdenkt, ehemalige Angestellte zur Arbeit zwangszuverpflichten.
Medial erzeugt es natürlich einen großen Effekt, wenn man von Heldentum und Dankbarkeit spricht, von "Solidarität" mit Pflegekräften, wenn Leute eine Minute lang am Fenster applaudieren.
Die harte Realität im Job
Die Realität sieht aber so aus, dass es sich um Angestellte handelt. Angestellte, die unter miserablen Bedingungen arbeiten. An vielen Stellen fehlt Schutzkleidung oder ist streng rationiert. Urlaubsverbote, Schichtverlängerungen und zu kurze Ruhepausen sind in diesen Berufen möglich.
Einige Pflegende werden an ihrem Arbeitsort unter Quarantäne gehalten und können nicht nach Hause. Einige erleben Diskriminierung, indem sie von besorgten Nachbarn zum Umziehen aufgefordert werden oder nicht in Supermärkte gelassen werden aufgrund ihres Berufs und der Angst vor Ansteckung.
Niemand sorgt sich um Superman
Eine Freundin, Krankenschwester auf der Intensivstation, sagte: "Ich fühle mich nicht als Heldin. Es gehörte nicht zu meiner Jobbeschreibung, dass ich ohne ausreichende Schutzkleidung in der ersten Reihe stehe."
Es liegt weniger Glorie darin, die Arbeitsbedingungen von Angestellten zu verbessern. Aber das wäre genau das, was sie dringend brauchen. Und davon lenkt der Begriff "Held" ab. Niemand sorgt sich um die Arbeitsbedingungen von Superman.
Schluss mit der Lobhudelei
Wer bemerkenswerten Mut lobt, der denkt weniger darüber nach, wie man Menschen tatsächlich schützen kann, damit sie ihrem Beruf auch ohne bemerkenswerten Mut nachgehen können. Statt Lobhudelei wünsche ich mir deshalb viel mehr nüchterne Berichte über die Situation der Pflege und anderer systemrelevanter Berufe.
Wenn wir nicht wollen, dass nach Corona Pflegekräfte haufenweise kündigen, sollten Medien der Öffentlichkeit nicht nur von ihrer großen Leistung und Selbstlosigkeit erzählen, sondern vor allem ihre Stimmen multiplizieren, wenn sie ihre Forderungen wiederholen, wie der Beruf ausführbar gestaltet wird.
Dilek Kalayci (l), Berlins Gesundheitssenatorin, spricht mit Ärzten und Pflegepersonal auf der neu eröffneten Intensivstation des Vivantes Humboldt-Klinikums im Stadtteil Reinickendorf.
Pflegeberufe: Wertschätzung auch nach der Krise
Applaus auf Balkonen sei für die Pflegekräfte wohltuend, sagte Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, im Dlf. Aber man benötige flächendeckende Tarifverträge und langfristig eine bessere Bezahlung.
Durch Lohnerhöhungen. Durch besonderen Schutz der Risikogruppen unter ihnen. Durch besseren Schutz vor Ansteckung, anstatt dass man ausgefallene Pflegekräfte durch Zwangsarbeit und längere Schichten ersetzt.
Medien sollten zu echter Solidarität auffordern
Und vor allem müssen alle Menschen, die da an den Fenstern klatschen, ihre Solidarität dadurch ausdrücken, dass sie keine Freunde treffen, zu Ostern keine Eltern besuchen, sich insgesamt an die Kontaktbeschränkungen halten. Denn DAS hilft den Pflegenden am meisten.
Niemand kann ihnen das so gut kommunizieren wie das Megafon der Massenmedien. Es ist an uns, eine Zeit zu schaffen, in der wir keine Helden brauchen.