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"Kritik der schwarzen Vernunft"
Auseinandersetzung mit der Identität Afrikas

Von Dorothea Dieckmann | 09.11.2015
    Während die Flüchtlinge vom afrikanischen und asiatischen Kontinent gegen Europas Mauern anrennen, vergessen wir leicht, dass wir einer kleinen Weltprovinz mit alternder Bevölkerung, schrumpfender politischer Bedeutung und schwindender ökonomischer Macht angehören. In unseren Köpfen überdauert noch immer die Zeit, als Europa der Sitz weltweiter Kolonialreiche und globaler Deutungsmacht war.
    Den Kolonialismus glauben wir überwunden, doch unser kostbarstes Exportgut, die Idee universaler Menschenrechte und die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, meinen wir immer noch gepachtet zu haben. Dabei sind es längst Denker aus den früheren Kolonien, die die Gegenwart interpretieren – wie etwa der renommierte kamerunische Historiker Achille Mbembe in seinen Untersuchungen zur postkolonialen Gesellschaft:
    "Gewiss, das 21. ist nicht das 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf der koloniale Vorstoß nach Afrika im Westen von einer ausgeprägten Biologisierung der Rasse begleitet wurde. Aufgrund der Globalisierungsprozesse bricht allerdings die Rassenlogik erneut in das zeitgenössische Bewusstsein ein. Fast überall fabriziert man inzwischen wieder Rassensubjekte. Ganz wie zu Beginn des 19. ist der Beginn des 21. Jahrhunderts eine große Zeit der Teilung, der universellen Differenzierung und der Suche nach reiner Identität. Unter diesen Umständen ist das Substantiv "Neger" – das diesem Buch als Anker dient – weniger polemisch, als es erscheinen mag."
    Mbembes brillante Studie hat viele hiesige Rezensenten verwirrt und provoziert. Das beginnt mit dem Titel "Kritik der schwarzen Vernunft", der an Kants bahnbrechendes Aufklärungswerk anknüpft und an das Paradox erinnert, dass dieses mit dem Rassenwahn des Kolonialismus koexistierte. Der französische Originaltitel lautet "Critique de la raison nègre", Kritik der "negerhaften" Vernunft. Tatsächlich verwendet Mbembe durchweg die Worte "Neger" und "Rasse" und bringt damit eine Sprechergemeinschaft in Verlegenheit, die der Gefahr des Rassismus mit sprachlicher Säuberungsmentalität begegnet. Erst im letzten Kapitel setzt Mbembe das Wort "Neger" in Anführungszeichen, als er sich explizit mit der Bezeichnung auseinandersetzt:
    "Alles beginnt also mit einem Akt der Identifizierung: 'Ich bin ein Neger.' Die Identifizierung ist die Antwort auf eine Frage, die man sich selbst stellt: 'Wer bin ich?' Oder die einem gestellt wird: 'Wer bist du?' Aber was ist ein 'Neger', dieses Seiende, von dem es heißt, ich sei einer davon? 'Neger' ist der Name, der mir von anderen gegeben worden ist. Ursprünglich habe ich ihn nicht selbst gewählt. Ich habe ihn aufgrund der Stellung geerbt, die ich im Raum der Welt einnehme. Wer mit dem Namen 'Neger' ausstaffiert wird, weiß um diese externe Herkunft. Es gibt Namen, die man wie eine ständige Beleidigung trägt, und es gibt Namen, die man aus Gewohnheit trägt. Der Name 'Neger' gehört zu beiden Gruppen."
    Der "Neger" identifiziert sich also gezwungenermaßen mit einer Zuschreibung, die er nicht selbst verantwortet. Ebenso verhält es sich mit dem Namen "Afrika" und dem Begriff der "Rasse", wie Mbembe mit Bezug auf den Vordenker des Antikolonialismus Frantz Fanon erläutert:
    "Wer einer Rasse zugeordnet wird, ist nicht passiv. In einer Silhouette gefangen, wird er von seinem Wesen getrennt. Nach Fanon liegt einer der Gründe für das Elend seines Daseins darin, dass er diese Absonderung als sein wirkliches Sein erlebt, dass er den hasst, der er ist, und dass er der zu sein versucht, der er nicht ist."
    Mbembe erklärt die imaginäre Realität des Rassensubjekts auf dem Hintergrund der französischen Philosophie, insbesondere des jüdischen Philosophen Emanuel Levinas. "Neger zu sein" ist Folge des kolonialen Blicks, der im Anderen nur eine Spiegelung der eigenen Kategorien sieht und ihn damit aus der menschlichen Gegenseitigkeit ausschließt. Der Essay bettet diese begrifflichen Erkundungen in drei Untersuchungsstränge ein: erstens die historische Betrachtung von Kolonie, Sklaverei und Plantage, die den Neger zur Ware oder vielmehr die menschliche Ware zum Neger machten; zweitens die Analyse der Möglichkeiten, sich vom Selbstbild der geschichtslosen Rasse zu befreien; und drittens der Blick auf die Entwicklung des Kapitalismus, in der die wachsende Masse der Armen und Ausgestoßenen aller Regionen und Kulturen das Schicksal erleidet, für das der Name "Neger" steht. Denn:
    "Die Geburt des Rassensubjekts – und damit des Negers – steht im Zusammenhang mit der Geschichte des Kapitalismus. [Dieser war] stets auf das Instrument der Rasse angewiesen, um die Ressourcen der Erde auszubeuten. Das war gestern so. Und es ist heute so, da er sich daranmacht, sein eigenes Zentrum zu rekolonisieren, und die Aussichten auf das Schwarzwerden der Welt deutlicher als jemals zutage treten."
    Wie kämpfen die als Neger Stigmatisierten um eine Identität jenseits des rassistischen Blicks, wie können die Ausgeschlossenen der Menschheit daraus lernen? Mbembes Reflexionen über die Bewegungen des afrikanischen Sozialismus, der Négritude und des Panafrikanismus führen in die Widersprüche der Emanzipation. Im schwarzen Diskurs lauern zahlreiche Fallen, von Viktimisierung bis zu Ressentiment oder Nostalgie. Das Insistieren auf Gleichheit verführt zu der unterwürfigen Tautologie "Auch wir sind Menschen", die Anhänger der reinen Differenz dagegen pochen auf eine schwarze Authentizität, die im Rassendenken befangen bleibt. Bedauerlicherweise ignoriert Mbembe die tief greifende Analogie dieser zentralen Identitätsfragen zum feministischen Dilemma – handelt es sich doch im Fall der Frau wie des Negers um die biologische Fiktion eines Anderen des "allgemeinen Menschen". Umso überzeugender ist die Richtung, die er anvisiert:
    "Es gibt keine schwarze Identität, wie es geoffenbarte Bücher gibt. Es gibt eine im Werden begriffene Identität, die sich aus den ethnischen, geografischen und sprachlichen Differenzen zwischen den Negern und den aus der Begegnung mit der ganzen Welt überkommenen Traditionen speist."
    Der Weg zu dieser noch unbekannten Identität ist die Arbeit des Gedächtnisses, die Rekonstruktion des Verdrängten, die Umwandlung fremder Einflüsse, die Revision der kolonialen Überbleibsel, die Entdeckung einer eigenen Tradition, kurz: die Dekonstruktion der Vergangenheit als Voraussetzung eines Zukunftsentwurfs.
    Im Kapitel "Requiem für einen Sklaven", das er als "Nullpunkt des Buches" bezeichnet, widmet sich Mbembe dieser Erinnerungsarbeit innerhalb der afrikanischen Literatur. Die schwierige, fast hermetische Sprache dieser Passagen zeigt, wie neu die Erkundungen auf der "Rückseite der Geschichte" sind und wie fremd die mythischen Ressourcen, aus denen sie schöpfen. Gerade darin aber zeigt sich die Dringlichkeit einer "Kritik der schwarzen Vernunft".
    So, wie für den Begründer der Négritude, Aimé Césaire, der Neger die Figur einer Zukunft ist, die noch keinen Namen hat, so spricht Achille Mbembe im verfehlten Namen des Negers für das Projekt einer Welt ohne Schwarze, ohne Weiße, ohne Rasse. Als die "Zeit"-Redakteurin Elisabeth von Thadden den Autor in mutig-naiver Offenheit fragte: "Sie sind also kein Neger", brach er in lautes Lachen aus und antwortete:
    "Nein, ich bin kein Neger. Ich bin ein Mensch wie alle anderen in dieser Welt, in einer begrenzten Welt, die wir teilen müssen."
    Buchinfos:
    Achille Mbembe: "Kritik der schwarzen Vernunft", aus dem Französischen von Michael Bischoff, Suhrkamp Verlag, 332 Seiten