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Kritische Kompetenz

Nimmt die Kritik überhand oder will nicht mehr verstummen, dann sieht sich die Politik immer wieder genötigt, Pläne zu ändern, Bauvorhaben zu stoppen oder Personalfragen neu zu überdenken. Das Hamburger Institut für Sozialforschung fokusiert in seiner Vortragsreihe "Kritik und Praxis" kritische Kompetenz, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Integration.

Von Ursula Storost | 29.03.2012
    Für den Jenaer Soziologen und Sozialphilosophen Professor Hartmut Rosa ist es im Menschsein angelegt, die Umwelt kritisch zu betrachten.

    "Ein gutes Leben lässt sich nie zur Gänze realisieren. Sodass ich finde, Kritik ist eine menschliche Grundform. Die ist nicht per se schlimm. Die Tatsache, dass in einer Gesellschaft Kritik geäußert wird bedeutet nicht, dass in der Gesellschaft was nicht stimmt. Sondern sie ist ein Grundstoff, mit dem soziales Leben sich vollzieht."

    Kritik befördert die gesellschaftliche Diskussion. Sie hinterfragt, ob es nicht anders, besser ginge. Je nachdem aus welcher politischen Richtung sie kommt, polarisiert oder eint sie, findet Gegner und Befürworter. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen werden heutzutage kritisch beäugt, sagt Dr. Berthold Vogel, Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen und Projektleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

    "Und die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht ja darin, eine Art Urteilsfähigkeit darüber zu entwickeln, was sind eigentlich die unterschiedlichen Interessen, die gesellschaftlich im Schwange sind. Welche Formen von Ungerechtigkeit, von Unsicherheit, von Ungleichheit spielen bei der kritischen Auseinandersetzung mit Gesellschaft eine Rolle."

    Berthold Vogels Schwerpunkt ist die Arbeitswelt. Mit soziologischer Kritik an der Arbeit war immer auch die Idee verbunden, Arbeitsbedingungen menschlicher und sozialer zu gestalten, sagt er.

    "Die soziologische Kritik der Arbeit wurde sowohl von gewerkschaftlicher Seite als auch von Arbeitgeberseite her immer als eine Art Reflexionsorgan benutzt in den Betrieben, um darüber nachzudenken, wie können bestimmte Verbesserungen stattfinden für Beschäftigtengruppen. Wie können bestimmte Ungleichheitsverhältnisse innerhalb des Betriebes so gestaltet werden, dass sie nicht der Produktivität des Betriebes schaden, dass sie ein geregeltes Arbeitsleben ermöglichen."

    Wie und welche Kritik geübt wird, ist abhängig von gesellschaftlicher Entwicklung. Deshalb wird in der heutigen Bundesrepublik nicht nur anderes, sondern auch anders kritisiert als zum Beispiel im Frühkapitalismus, konstatiert Berthold Vogel.

    "In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte viel mehr eine Rolle, wie können wir eigentlich Demokratie gestalten. Und da kam auf einmal die Arbeit und der Betrieb in den Blickpunkt. Und die Idee, dass wir eigentlich Demokratie nur dann gestalten können, wenn es uns gelingt, auch die Arbeit demokratisch zu gestalten. Und insofern kann man sicherlich sagen, dass auch ein bestimmter Entwicklungsstand der Gesellschaft andere Formen der Kritik hervorruft."

    Aber wann wird Kritik gehört. Wann findet sie Eingang in Gesetzgebung und politische Gestaltung. Kritik, behauptet Berthold Vogel hätte Erfolg, wenn sie von gesellschaftlich relevanten Gruppen ausgehe.

    "Die Schwachen sind in der Regel nicht diejenigen, die sich kritisch gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen äußern. Das kann man jetzt auch am arabischen Frühling beispielsweise sehen, das kann man aber im Grunde genommen in allen revolutionären Bewegungen sehen. Das sind eigentlich Aufsteiger, das sind diejenigen, die die Kritik tragen, die mehr ihre Interessen verwirklicht sehen wollen. Wenn dann noch die notwendige kritische Masse dazukommt, diejenigen, die dann einer solche Bewegung unterstützen, dann tut das einer solchen Bewegung nur gut. Aber sie braucht diejenigen Personen, die als Protagonisten vorangehen, die die Kritik artikulieren und die sich selber gesellschaftlich stark genug fühlen diese Kritik auch äußern und durchsetzen zu können."

    Intellektuelle, Wissenschaftler und die aufstrebenden Mittelschichten seien die Träger einer wirksamen Kritik, sagt Berthold Vogel. Und die Aufgabe der Soziologie sei, diese Kritik umzusetzen.

    "Im Grunde genommen so etwas wie eine Vorstellung zu entwickeln, wie könnte ein gutes gesellschaftliches Leben aussehen, wie könnte eine gute auf Ausgleich zielende Konfliktregulierung in einer Gesellschaft aussehen. Und geht damit auch eine bestimmte Verpflichtung gegenüber einer entwickelten Bürgergesellschaft ein."

    In Frankreich ist in den letzten Jahrzehnten eine Soziologie der Kritik entstanden. Sie hat die Kritikfähigkeit einzelner Personen in den Blick genommen.

    "Dass man auch den Leuten zuhört und dass man eigentlich ihnen vertraut, wenn es um ihr eigenes Leben geht. Ich glaube Leute sind auch imstand zu sagen, was für sie gut ist und was nicht und das soll man nicht vergessen."

    Professor Bénédicte Zimmermann ist Direktorin an der Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sie beschäftigt sich mit der Frage, warum es vonseiten der Arbeiter keinen größeren Widerstand gegen unterbezahlte und unsichere Arbeitsverhältnisse gibt. Diese Menschen haben sich an die Zustände angepasst. Sie haben gar keinen Zugang mehr zu ihrer eigenen Kritik, glaubt die Soziologin. In Betrieben, wo die Arbeiter Mitspracherecht und einen sicheren Arbeitsplatz haben, sei das nachweislich anders. Dort entstünden Kreativität und soziales Engagement. Zum Wohle des gesamten Betriebes.

    "Ich glaube, diese Frage der Partizipation der Arbeiter ist eine ganz, ganz zentrale Frage. Und das hat nicht nur zu tun mit der Arbeitswelt. Das hat auch zu tun mit der Gesellschaft und das hat natürlich ganz stark mit der politischen Ordnung zu tun. Was wir als Demokratie betrachten. Und der Platz der Arbeit in der Demokratie."

    Kritik ist ein Motor für Kreativität, behauptet auch Professor Hartmut Rosa von der Friedrich Schiller Universität in Jena. Und für unser kapitalistisches System bedeutete das, Kritik wird produktiv umgesetzt und bringt Profit.

    "Nehmen wir mal die Rockmusik. Die ist angetreten als Protest, als Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Und Ruckzuck ist diese ganze Unterhaltungsbranche ein mächtiger Wirtschaftszweig geworden, in dem unglaublich viel Geld verdient werden konnte. Das heißt, das System hat die Kritikform Rockmusik und die damit einhergehenden Kleidermoden und Verhaltensformen und Eventkulturen wie Open Airs zu einem gigantischen Geschäftszweig gemacht. Und das Gleiche ist ein bisschen später mit der Ökobewegung passiert."

    Ökoprodukte und Bioprodukte sind heute erfolgreiche Unternehmenszweige.

    "Man sieht also, diese Art des Wirtschaftens und des Handelns beruht geradezu darauf, dass immer wieder Kritik entsteht, die dann produktiv eingebunden wird und dann letzten Endes das System beflügelt, befeuert und am Leben erhält."

    Im Moment beginnt das System allerdings zu bröckeln, prophezeit Hartmut Rosa. Er beobachtet, dass eine wachsende Zahl von Menschen in den westlichen Gesellschaften das Gefühl hätten, die sozialen Verhältnisse geraten immer mehr in Schieflage. Und die Zielsetzungen der Industrienationen haben sich überlebt."

    "Zum Beispiel der permanente Zwang zum Wirtschaftswachstum ist etwas, was viele Menschen infrage stellen würden. Erstens gehen uns die Ressourcen aus. Zweitens verursachen wir ne ökologische Katastrophe, drittens wird durch diese Art der Verteilung nicht mal das Gerechtigkeitsproblem gelöst und schließlich trägt das auch nicht zum guten Leben bei. Noch mehr Güter und Produkte zu haben sind nicht das, was unser Leben zu einem guten Leben macht. Und da sieht man, dass die Kritik ihre Form wechselt. Da wird nicht mehr gesagt, die Praxis ist nicht so, dass sie dem Guten und Gerechten dient, sondern dass man sagt, die Vorstellung des Guten, die wir da mal verfolgt haben, nämlich Wachstumssteigerung, Beschleunigung ist gar nicht die richtige Form des Guten."

    Diese Wachstumskritik könne unser System aber nicht mehr produktiv umsetzen, konstatiert Hartmut Rosa. Denn Wachstum ist hier systemimmanent. Wirtschaft und Sozialsysteme würden zusammenbrechen, wenn man ein Nullwachstum propagiert.

    "Sodass es kommt zu ner massiven Auseinanderentwicklung zwischen den Wertvorstellungen und Gerechtigkeitsüberzeugungen der Bürgerinnen und Bürger und der Operationsweise des Systems. Sodass wir jetzt nicht mehr das Gefühl haben, zum Beispiel mit Wirtschaftswachstum realisieren wir die gute Gesellschaft. Sondern das Gefühl macht sich breit, wir rennen nur vor der Krise weg. Vor dem Abgrund. Wir haben Angst, wenn wir den Wachstumspfad aufgeben, dann stürzen wir in den Abgrund. Insgesamt stellt sich damit eine Lebensüberzeugung heraus, die nicht mehr sagt, wir bewegen uns auf ne bessere Gesellschaft, auf die Verwirklichung eines Guten zu, sondern wir laufen panisch vor ner Krise weg. Ich glaube, das ist ne ganz ungesunde gesellschaftliche Situation."

    Die derzeitige Gefahr, konstatiert Hartmut Rosa, sei, dass es keine Visionen des Guten mehr gebe, keine positiven Zielvorstellungen, auf die die Gesellschaft hinsteuert. Die ökonomische und ökologische Katastrophe rücke scheinbar näher, ohne dass man einen Ausweg sähe.

    "In der heutigen Welt besteht die Gefahr, dass das politische System so wahrgenommen wird, dass es nicht mehr reagiert. Das zeigt auch die politische Kulturforschung. Die Hauptbeschwerde von Bürgern und Bürgerinnen ist, dass sie sagen, die Kommandobrücken antworten überhaupt nicht mehr auf unsere Bedürfnisse. Die Politik macht, was sie will, die bedienen nur noch sich selber."

    Und das, sagt Hartmut Rosa, könne im Endeffekt bedeuten: Unser System verliert an Stabilität.

    "Die Akteure, auf deren Entscheidungen und Handlungen es ankommt, müssen das Gefühl haben, dass es ihre Gesellschaft ist. In einer totalen Bruchsituation, in der die ökonomisch oder politisch herrschenden Mächte, wenn die nur noch als fremd oder als äußerer Zwang wahrgenommen werden, dann kann kein Gesellschaftssystem auf Dauer stabil und effizient funktionieren."