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Kritische Soziologie
Die Konstruktion des Rechts

Der junge französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie nimmt das moderne Strafrechtssystem unter die Lupe. In seinem Buch "Verurteilen" geht es um Macht, Gewalt und Strafen - und um die Frage, ob all das gerecht sein kann.

Von Barbara Eisenmann | 18.12.2017
    Hinter Gittern: Bürokratische Routine der Justiz
    "Mit jeder Verurteilung wird also die Autorität des Gesetzes wiederhergestellt, und der Staat behauptet sich als souveräne Macht" - so de Lagasnerie in seinem Buch "Verurteilen" (imago / Michael Bahlo / Suhrkamp)
    Man beginnt am besten ganz hinten, beim letzten Kapitel der Untersuchung des französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie. Der Autor erläutert hier, warum aus seiner Sicht der klassische Ansatz der empirischen Sozialwissenschaften nur eine Verlängerung des gesunden Menschenverstands ist.
    Wenn man zum Beispiel in eine Institution wie ein Gericht geht und eine Weile zuschaut, um dann zu erzählen, was man dort wahrgenommen hat, versetze einen das nicht in die Lage zu erfassen, was hinter der wahrgenommenen Wirklichkeit und durch sie hindurch wirkt.
    "In einem gewissen Sinne sieht es so aus, als ob die Unternehmung von Feldforschung darauf hinausläuft, dass man es akzeptiert, sich innerhalb eines vom Staat zugestandenen und vorbestimmten Rahmens zu bewegen - beispielsweise das Gericht, wie es ist, wie es sich herausgebildet hat - und sich die Mittel versagt, eine Untersuchung der Fundamente durchzuführen. Das heißt, die staatliche Konstruktion der Wirklichkeit umzustürzen, die Begriffe des Strafrechts, der Verantwortung, der Bestrafung, der Verurteilung."
    Plädoyer für eine kritische Soziologie
    Die gesellschaftliche Totalität bekommen viele empirisch angelegte Studien tatsächlich nicht in den Blick. Und die Forschenden bleiben auch, wie de Lagasnerie konstatiert, in die Ideologien der Institutionen eingesperrt, die doch eigentlich ihr Untersuchungsgegenstand wären.
    Aus gutem Grund hat er also auf seine ursprüngliche Absicht einer empirischen Untersuchung des Strafjustizsystems verzichtet und sich an eine theoretische Analyse gemacht. In ihr kreuzen sich kritische Theorielektüren mit eigenen empirischen Beobachtungen und spekulativen Fragen zum Strafrecht, aber auch zum Staat:
    "Jedermann kann zu jedem Zeitpunkt zur Zielscheibe der Polizei- und Justizmaschinerie werden: Untersuchung, Haft, Gerichtsurteil. Die Existenz eines Strafrechts geht Hand in Hand mit der Existenz eines Systems, durch das sich der Staat das Recht verleiht, über die Menschen zu verfügen."
    In einem ersten Schritt arbeitet der Autor heraus, inwiefern die Verantwortlichkeit für eine Straftat immer in der Individualität des Täters lokalisiert wird. Dabei ist die individualisierende Erzählung nur eine mögliche Rekonstruktion des Geschehens.
    Sowohl de Lagasneries Beobachtungen bei Gerichtsverhandlungen, in denen Raubüberfall, Mord, Raubmord, Totschlag, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung verhandelt wurden, aber auch statistische Untersuchungen bestätigen, dass es sich bei den Angeklagten mehrheitlich um Männer, um Männer nicht-weißer Hautfarbe, um ausländische Männer, um Männer in prekären Situationen, um Männer aus benachteiligten Gesellschaftsschichten handelt.
    Dennoch spielen die sozialen Verhältnisse vor Gericht keine Rolle:
    "Die strafrechtliche Konstruktion der Wirklichkeit gründet sich in erster Linie auf die Weigerung, in Begriffen der Totalität zu denken. Für den Blick des Richters gibt es keine soziale Situation, in der die Individuen gefangen sind und die ihre Handlungen determiniert."
    Die Rekonstruktion der Tat
    Und deshalb sei die Figur des Psychiaters und Psychologen von so herausragender Bedeutung. Beide sind in Frankreich in jedem Strafprozess als Zeugen anwesend. Sie liefern die wissenschaftlich glaubwürdigen Bausteine für die individualisierende Erzählung. Würde man allerdings die Figur eines Sozialwissenschaftlers einführen, bekäme man eine andere, vielleicht legitimere Erzählung darüber, was geschehen ist, denn man müsste die Verantwortlichkeiten der Gesellschaft verhandeln.
    "Ist es möglich, das Geschehen in einem nichtindividualisierenden Rahmen zu denken? Was würde passieren, wenn man diesen Wahrnehmungsrahmen auflöste, wenn man andere Erzählungen konstruierte? [...] Welche andere Konzeption des Verurteilens und des Rechts würde daraus hervorgehen? Welche andere Wahrnehmung der Justiz, welcher neue Begriff dessen, was ‚gerecht‘ ist, könnten in Erwägung gezogen werden?"
    Derlei Gedankenspiele durchziehen de Lagasneries Analyse und machen sie zu einer spannenden Unternehmung, weil sie nicht nur die theoretische, sondern auch die gesellschaftliche Vorstellungskraft mobilisieren.
    Ein Mann arbeitet mit einem Schweißgerät an einem Metallbalken.
    Ein Häftling arbeitet in der Schlosserei der Justizvollzugsanstalt in Willich (Nordrhein-Westfalen). (dpa/ picture-alliance/ Maja Hitij)
    In einem zweiten Schritt stellt der Autor die Figur des Staatsanwalts ins Zentrum seiner Überlegungen. Der Staatsanwalt spricht im Namen des Staats, er vertritt die Interessen der Gesellschaft. Durch ihn wird jede Straftat als Aggression gegen die Gesellschaft und den Staat definiert. Und so geht es bei einer Gerichtsverhandlung immer auch darum, den Angeklagten öffentlich zu sagen:
    "Ihr habt mehr getan, als ihr glaubt, eure Handlungen sind schwerwiegender, als ihr denkt; ihr habt nicht nur gestohlen, überfallen etc., ihr habt die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gefährdet, die Rechtsordnung erschüttert, den Staat herausgefordert."
    Die Bedeutung der Strafe
    Mit jeder Verurteilung wird also die Autorität des Gesetzes wiederhergestellt, und der Staat behauptet sich als souveräne Macht. De Lagasnerie argumentiert, dass hier nicht den Opfern einer Tat, sondern in der Hauptsache dem Staat ein Dienst geleistet wird. Das freilich hat mit Gerechtigkeit herstellen nichts zu tun.
    Am Ende läuft seine Studie darauf hinaus, ein ganz anderes Strafrecht zumindest als Möglichkeit ins Auge zu fassen: eine Justiz, die vom Staat absieht und die radikaldemokratisch wäre.
    "Können wir uns nicht ein gerechtes Recht vorstellen – das heißt, ein Recht, das [...] den Akteuren die Möglichkeit gäbe, durch sich selbst zu bestimmen, was geschehen ist, wie sie es erleben und was Gerechtigkeit widerfahren lassen bedeutet? Es würde darum gehen, sich auf den Weg des Aufbaus dessen zu begeben, was ein im vollen Sinne demokratisches Recht sein könnte."
    Nun mag man dem jungen Philosophen vorwerfen, seine Arbeit sei zu spekulativ. Er kann nur die sogenannte Übergangsjustiz als empirisches Beispiel anführen, die u.a. in Wahrheits- und Versöhnungskommissionen wie in Südafrika praktiziert wurde. Dort lassen sich alternative, staatsunabhängige Formen der Rechtsprechung finden, in denen Vergebung und Wiedergutmachung wichtiger als Bestrafung sind.
    Allerdings geht es dem Autor nicht um Lösungsvorschläge. Er hat sich vorgenommen, die großen Fragen neu zu stellen, und das ist ihm auf eine augenöffnende Weise durchaus gelungen.
    Geoffroy de Lagasnerie: "Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie".
    Suhrkamp, 271 Seiten, 26 Euro