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Kronzeuge menschlicher Beziehungen

Ingmar Bergman ist tot. Er starb im Alter von 89 Jahren auf der Ostseeinsel Fårö. Es gibt kaum einen anderen Filmemacher, der wie Bergman das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen und Zweifel, Höhenflüge und Niederlagen zum Gegenstand seiner ästhetischen Auseinandersetzungen gemacht hätte.

Von Peter W. Jansen | 30.07.2007
    Zwei ältere Männer begegnen einander in der psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik von Uppsala, der pensionierte Professor Osvald Vogler und der Erfinder Carl Åkerblom. Åkerblom, Dilettant auf dem Klavier und Schubert-Liebhaber, ist eingeliefert worden, weil er seine Verlobte fast zu Tode geprügelt hatte. Jetzt denkt er über eine neue Erfindung nach, für die er den Professor Vogler zu begeistern versteht: den Sprechfilm. Bei einer anstaltsinternen Vorführung geht der Film in Flammen auf, und die beiden Männer tun das, was sie von Anfang an hätten tun können: Sie führen die unselige Begegnung Schuberts mit einer Prostituierten, die ihm seine tödliche Krankheit einbringen wird, als Theaterstück auf.

    Bleibt nach dem Kino, nach dem Ende des Kinos, nur das Theater? Lautet so das Vermächtnis eines der bedeutendsten Erfinder der Filmsprache? "Dabei: ein Clown", eine Fernsehinszenierung, war Ingmar Bergmans letzter Film, nach vielen Jahren, die er Abschied genommen hatte. Für ihn kam danach nur noch Theater. Die einmalige, unwiederholbare, unwiederbringliche Erscheinung, die nie ihre Faszinationskraft auf den Mann verlor hatte, für den alles Leben und alle Kunst unwiederbringlich waren. Noch einmal war davon in "Dabei: ein Clown" die Rede - wie von allen Obsessionen, Ideen, Ängsten, Träumen, denen man in mehr als 50 Filmen und Fernsehproduktionen Bergmans begegnet ist. Zuletzt haderte der alte Mann mit sich selbst, mit seiner Kindheit, seinen Lieben, seinem Glauben, dem Tod. Er hatte sich auf die karge Insel Far zurückgezogen, auf der Suche nach den Ursprüngen des Landes, das er schon 1965 in einem Radiointerview beschrieben hatte:

    "Schweden war ja einmal ein Bauernland. Da lebten die Menschen in kleinen Dörfern zusammen und in kleinen Städten. Und alle lebten zusammen in großen Familien. Und dann kam diese große industrielle Verstädterung. Und dann fühlten die Menschen, dass es vielleicht besser in der Stadt wäre. Und sie kamen in die Stadt, und es war sehr eng in der Stadt zu leben. Die Wohnungen waren sehr klein. Die Großeltern konnten nicht mehr mit den Kindern, mit den Eltern zusammenleben. Und im selben Augenblick kam auch diese neue - wenigstens in Schweden - diese atheistische Politik. Die schwedischen Menschen haben ja eine große religiöse Begabung, das kennen wir ja. Die ganze Politik sollte ja plötzlich die Menschen von der Religion trennen. Die Menschen fingen an, an Gott zu zweifeln. Das ist ganz klar, die jungen Menschen auch."

    Er hat das Kino verwandelt von einer Sprache der Nachahmung von Natur zu einer Sprache der Meditation. Drehbuchautor der eigenen Filme vor allem, hat er in knapp einem Jahrzehnt, in der Zeit zwischen 1953 und 1962, das Kino revolutioniert: vom "Abend der Gaukler" bis zum "Schweigen". Er hat alles herkömmliche Erzählen aufgebrochen zu einem Dialog von Gegenwart und Gedächtnis, außen und innen, Erfahrung und Vision. Er hat den Film als Film sichtbar gemacht, indem er ihn als Material herzeigte, und er hat alles Feste eingedampft. Er löste, in unendlichen Verschränkungen der Zeitebenen der Handlung und der Zeitlosigkeit des Gedankens, alle Gewissheiten des Zeitlichen auf und nahm ihm damit auch den Stachel. In seinem Kino ist, allem Zweifel abgetrotzt, das Vergängliche gegenwärtig und nicht mehr vergänglich, ist der Tod lebendig und haben Uhren keine Zeiger mehr.

    Das war der Alptraum des 78-jährigen Arztes Isak Borg, für den sich in den "Wilden Erdbeeren" Gegenwart und Geschichte durchmischen und angesichts des nahen Todes gegenseitig erhellen. Das war ein Film so voller Kühnheit wie vorher schon "Das siebente Siegel", dieses Schachspiel mit dem Tod und Road Movie durch das Mittelalter der Kreuzzüge, der Pest und der Flagellanten, der Hexenabfackler und Gaukler. Seinerzeit nur als Inhalt wahrgenommen, entpuppte sich der Film bei der Wiederbegegnung als die Entdeckung der emotionalen Kraft der Totalen, als Versuch einer neuen filmsprachlichen Syntax im abrupten Wechsel der Totalen mit den Nahaufnahmen, wie man sie später in der elliptischen Erzählweise von Jean-Luc Godard wiederfinden sollte.

    Nur als Inhalt wahrgenommen zu werden, war das Los der meisten Filme Bergmans. So wurde "Das Schweigen" zum Gegenstand weltmeisterlicher Leistungen der Interpretation, gedeutet und vereinnahmt als christliches Melodram aus protestantischem Geist mit katholischer Ikonographie.

    Es gibt kaum einen anderen Filmemacher, der wie Bergman das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen und Zweifel, Höhenflüge und Niederlagen zum Gegenstand seiner ästhetischen Auseinandersetzungen gemacht hätte. Niemand anderer als der Sohn eines ebenso strengen wie engen Pfarrers hätte so selbstquälerische Filme über den Glauben und die Verzweiflung, über die Entfernung Gottes aus der Welt machen können; niemand wie der Sohn einer dominanten, selbstbewussten und kunstinteressierten Mutter konnte so starke Frauengestalten erfinden; niemand wie der Mann, der oft genug an seiner Liebesfähigkeit zweifelte, mindestens fünfmal verheiratet war und dessen Filmwerk man auch nach den Frauen, den Tänzerinnen und Schauspielerinnen, periodisieren könnte, mit denen er Beziehungen unterhielt. Niemand anderer als er konnte berufener sein, immer wieder und aufs neue und niemals bis zum Überdruss oder bis zur Redundanz das schwierige, wenn nicht unmögliche Zusammenleben von Mann und Frau darzustellen

    Die "Szenen einer Ehe", 1972 entstanden, fünf Stunden lang im Fernsehen und im Kino immerhin noch annähernd drei, hatte nur er schreiben und inszenieren können; denn ausdenken musste er sie sich kaum. Mit den "Szenen einer Ehe", wie die Olympischen Spiele von Malaysia bis Chile, von Island bis Neuseeland vor einem nach Abermillionen zählenden Fernsehpublikum ausgebreitet, mit diesen "Szenen einer Ehe" machte sich dieser Mann zum globalen Kronzeugen der Beziehungen zwischen Mann und Frau, machte er sein eigenes Leben endgültig zum Steinbruch - und hatte die intellektuelle und moralische Selbstausbeutung ihren Gipfel erreicht.

    Er hat in 40 Jahren 50 Filme gedreht, nicht zu reden von seinen Büchern und von den Stücken und den Inszenierungen auf dem Theater. Er hat sich vor allem in den Filmen der 70er und 80er Jahre von "Eine Passion" bis "Fanny und Alexander", aber auch schon in "Persona" von 1967, als der Schauspielerregisseur schlechthin erwiesen, der wahrscheinlich von keinem anderen in der Welt übertroffen wird. Er konnte seinen Darstellern so entlarvend naherücken, weil sie wussten, dass er ihnen nahe war, unerschütterlich, unverbrüchlich. Als er 40 wurde, zeigte die Cinématèque Française seine bis dahin 19 Filme. Damals, 1958, schrieben sie schon abschließend über ihn, die jungen französischen Kritiker und künftigen Regisseure der Nouvelle Vague, Truffaut zum Beispiel oder Godard, der von Bergman sagte, es sei unmöglich, auf klassischere Weise modern zu sein. Damals fingen sie an, von dem Klassiker der Moderne nicht nur zu sprechen, sondern auch zu zehren. Bis heute nichts mehr von all dem nur noch ihm selbst gehört. Es ist unmöglich, von Bergmans Kino zu reden, ohne gleichzeitig an die Filme zumal der Europäer der letzten vier Jahrzehnte zu denken oder an Woody Allen, der sich - so sehen es jedenfalls die Amerikaner - an Bergmans Kino so vergiftet hat, dass er von seiner ästhetischen Raserei gegen Hollywood nicht mehr lassen kann.