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Krude Obsessionen

In seinem Roman "Isabelle", 1957 erstmals erschienen, erzählt der französische Schriftsteller Jean Forton eine verstörende Liebesgeschichte von einem skrupellosen Egomanen und einem jungen Mädchen: ein Meisterwerk der klassischen Moderne, erstmals ins Deutsche übersetzt.

Imogen Reisner | 12.04.2012
    Nähern wir uns dieser literarischen Wiederentdeckung aus dem Jahr 1957 mit dem Blick auf die Verpackung: Das Cover ziert die Vergrößerung einer Schwarzweißaufnahme: Die dunkle Pupille eines Auges schaut dem Betrachter direkt ins Gesicht. Der Gesichtsausschnitt ist auf hellem Hintergrund platziert. Auf der Rückseite des Umschlags, kleinformatig, in einem kreisförmigen Ausschnitt, ebenfalls eine Schwarzweißaufnahme, im Unterschied zum Frontcover auf schwarzen Grund gesetzt: Es ist der Kopf eines jungen Mädchens in der Rückansicht. Sein Haar ist in zwei Zöpfe geflochten, die über einem zarten Nacken herabhängen.

    Schlägt man das Buch auf, fällt die ansprechende Typographie ins Auge: schmal bedruckte Seiten in elegant-luftigem Layout auf pastellfarbigem Papier. Lustvoll und mit dem köstlichen Gefühl berechtigter Erwartungen, liest man die ersten Sätze:

    "Endlich bin ich eingerichtet. (…) Der Umzug hat mich gut zwei Tage gekostet. (…) Ich finde mich wieder, mich und nur mich allein im Angesicht der Einsamkeit, die mir in den letzten zwei Tagen gefehlt hat wie eine Droge, nach der ich süchtig bin."

    In seinem wiederaufgelegten Roman Isabelle erzählt der französische Schriftsteller Jean Forton von den kruden Obsessionen eines jungen Mannes, der sich im Bordeaux der Fünfziger Jahre mit sich, der Welt und seinem Leben zu Tode langweilt.

    Es ist bemerkenswert, in welchem Spannungsverhältnis sich diese düster-schmutzige Geschichte zur Ästhetik der Verpackung bewegt. Auch Fortons Sprache zeichnet sich im Unterschied zu den dunklen Assoziationen durch ihre lebendige Klarheit, ihre Modernität aus. Immerhin hat der Roman schon mehr als ein halbes Jahrhundert auf den Buchdeckeln. Forton starb bereits im Jahr 1982 im Alter von nur 52 Jahren.

    Der namenlose Ich-Erzähler, 34 Jahre jung, ein einsamer, freud- und kinderloser Müßiggänger, geht keinerlei ernsthafter Beschäftigung nach. Er haust in einem möblierten Dachzimmer einer gesichtslosen Pension, in die er gerade vor einer zu anspruchsvoll gewordenen Geliebten geflohen ist. Wand an Wand mit einem kontaktfreudigen russischen Immigrantenpärchen bemüht sich Fortons Held aus einem Impuls eingefleischter Überheblichkeit, sich seine Zimmernachbarn vom Leibe zu halten. Für den eigenen Lebensunterhalt schöpft er in regelmäßigen Abständen die Profite aus dem Weinhandel seines Bruders ab. Und da er nichts Besseres zu tun hat, genießt er es bei diesen Gelegenheiten, seine Schwägerin und den Neffen mit sadistischen Spielchen zu traktieren. Darüber hinaus schlägt er seine Zeit mit unermüdlichen Selbstbespiegelungen tot, über die er akribisch Tagebuch führt.

    "Das ist mein Laster, auf Papier kritzeln, es besudeln. Darin schwelgen, von sich selbst zu sprechen, hemmungslos (…).
    Ich wollte nichts anderes vom Leben als meine Ruhe. Ich bin in jeder Hinsicht mittelmäßig, eher hässlich, faul, ohne Talent, ohne Ideale. (…) Ich gehe mit einem blöden Grinsen durchs Leben."


    Behutsam, in feinsten sprachlichen Nuancen, mit faszinierender Intensität und analytischer Tiefenschärfe entfaltet Forton in einem knapp dreihundert Seiten umspannenden Selbstgespräch das Porträt eines menschenverachtenden Tagediebs, eines windelweichen, lebensuntüchtigen Egomanen, der weder über innere Werte noch über das geringste Rückgrat verfügt. Einen "Einstein der Mittelmäßigkeit" nannte ihn ein Kollege und Zeitgenosse Fortons. Tagaus, tagein ergeht er sich in sexuellen Phantasien und misanthropischen Betrachtungen, bis ihm auf einem seiner ziellosen Spaziergänge durch die Stadt ein Mädchen ins Auge fällt:

    "Es war ein sehr junges Mädchen, blond; gekämmt wie eine Internatsschülerin (…). Sie trug einen marineblauen Mantel und flache Schuhe. Sie kam mir rührend vor, so artig und beflissen, sie hatte die Augen brav geradeaus auf die Straße gerichtet und lief mit ihren kleinen Füßen hurtig weiter."

    Von nun an haben die morbiden Phantasien, die zynischen Kopfgeburten und sexuellen Obsessionen des Ich-Erzählers ein Ziel gefunden: Isabelle, eine 16-jährige Schülerin, der Prototyp der reinen, unschuldigen Kindfrau, die von den monströsen Hirngespinsten ihres "Entdeckers" so weit entfernt ist wie die Jungfrau vom Kind.

    Sukzessive, mit widerwärtiger Penetranz, entwickelt Fortons Protagonist eine tödliche Strategie, um sein Opfer einzufangen und sich gefügig zu machen. Es ist das Programm einer systematischen Manipulation und der daraus resultierenden seelischen Zerstörung eines Menschen. Für den Helden von Isabelle wächst es sich zum monströsen Lebensprojekt aus.

    Meisterhaft gelingt es Jean Forton, die komplexe Psychopathologie eines innerlich bis auf die Knochen verwahrlosten Mannes in ihrer erschreckenden Gewöhnlichkeit darzustellen: Selbstsucht, Geiz, Niedertracht, Schadenfreude, das Fehlen moralischer Zweifel, absolute Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns – all dies entfaltet der Autor in der tabulosen Selbstbespiegelung seiner Hauptfigur Zug um Zug vor den Augen des Lesers. Gegliedert ist der Roman, wie eine griechische Tragödie, in drei Teile. Es ist vor allem die dichte, düstere Atmosphäre der Lebens- und Gedankenwelt des Helden, die den Leser schon frühzeitig in ihren Bann schlägt. Das Kolorit kraftloser, stumpfer, trüber Grautöne, in dem Forton seine Geschichte ihrem unausweichlichen Ende entgegentreibt. Vermutete Anklänge an das Lolita-Motiv sind indes in Isabelle fehl am Platze, da Fortons Titelfigur keineswegs Komplizin der sexuellen Obsessionen ihres Verführers ist.

    Isabelle ist der vierte von neun Romanen Jean Fortons. Der Buchhändler und Schriftsteller war erst 27 Jahre jung, als er dieses Buch schrieb. Seinen Zeitgenossen galt es als sein Meisterwerk.

    Unzweifelhaft scheint, dass diese Fallstudie einer monströsen Täterfigur, die weder zur Liebe noch zum Mitleid oder gar zum Widerspruch fähig ist, im Pantheon der literarischen Helden trotz oder gerade wegen seiner Verabscheuenswürdigkeit einen der vorderen Plätze einnehmen wird.

    Jean Forton: Isabelle.
    Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
    Mit einem Nachwort von Catherine Rabier-Darnaudet
    Graf Verlag, München, 2011, 304 Seiten, 18 Euro