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Kühle Lagerstimmung

Die junge Generation hat nie irgendetwas erlebt. Was für sie zählt, ist die reine Gegenwart, die pure Oberfläche. Die junge Generation ist konsumfixiert und politisch desinteressiert. Beziehungen werden lediglich an ihrem Nutzwert gemessen, Sexualität ist cool und weiter nichts. Entsprechend sehen die Veröffentlichungen der jungen Autorinnen und Autoren aus; im besten Fall gut gemacht und gekonnt, artikuliert sich in ihnen allenfalls die präzise Aufnahmefähigkeit eines technischen Geräts.

Sabine Peters | 29.10.2003
    Wie erleichternd, dass solche Klischees immer von neuem Widerspruch erfahren. Julia Franck, die 1970 in Ostberlin geboren wurde, schien dem oben geschilderten Klischee in einigen Punkten ganz gut zu entsprechen. Sie veröffentlichte bisher die Romane Der neue Koch , Liebediener und den Erzählband Bauchlandung . Die Bücher spielten mehr oder weniger "jetzt", sie zeigten großstädtischen Alltag, und sie erzählten, wie Leute nach Leidenschaft, nach dem Kick in der Liebe suchen. Die coole Erotik von Julia Francks Texten wurde einmal als sinnliche "Körperprosa", als "Verbalerotik" gelobt, ein andermal hielt man ihr vor, sie schreibe die "Proseccoprosa" von Lifestyl-Magazinen.

    Insgesamt überwog allerdings die positive Kritik, die vor allem den unprätentiösen Stil hervorhob, die Schnörkellosigkeit, die Sprachökonomie des Erzählens. Julia Franck hatte Erfolg mit ihren Büchern; sie hätte also auf der eingefahrenen Schiene weitermachen können - und im neuen Buch springt sie aus dieser Schiene, sie geht in die jüngere Zeitgeschichte zurück. Dabei geht es ihr nicht um das "große" Thema Faschismus und Krieg, um einen Stoff also, dem sich derzeit sehr viele jüngere Autorinnen und Autoren aus dem sicheren zeitlichen Abstand unbefangen annähern. Es geht in Julia Francks neuem Buch vielmehr um das eher weniger bearbeitete Thema "kalter Krieg".

    Damit begibt sich die Autorin auf ein Terrain, das mit ihrer eigenen Lebensgeschichte zu tun hat. "Lagerfeuer" spielt Ende der siebziger Jahre im Notaufnahmelager Marienfelde. Julia Franck lebte dort als Achtjährige ein Dreivierteljahr lang, nachdem die Familie die DDR 1978 verlassen hatte. In ihrem neuen Buch geht es nicht in erster Linie um die eigenen Erfahrungen als Kind, die allerdings auch einfließen. Der Roman Lagerfeuer verbindet vier Erwachsenenschicksale im Notaufnahmelager miteinander: Die aus einer jüdischen Familie kommende Nelly Senff reist mit Sohn Aleksej und Tochter Katja aus der DDR aus, denn nach dem rätselhaften Tod des Vaters ihrer Kinder könne sie "drüben" nicht mehr leben. Die aus Polen kommende Krystina hat deutsche Vorfahren nachgewiesen und will ihren krebskranken Bruder in der BRD operieren lassen. Der amerikanische Geheimdienstmann John Bird führt Verhöre mit den Flüchtlingen, und der Schauspieler Hans Pischke wurde aus einem DDR-Gefängnis freigekauft.

    Julia Franck lässt diese vier Hauptfiguren jeweils aus der Ich-Perspektive sprechen, ein Verfahren, das die Protagonisten gewissermaßen gleichberechtigt, gleich groß, nebeneinander stellen will - aber das gelingt nicht immer ganz: Krystina und Pischke wirken neben Nelly Senff und John Bird eher blass gezeichnet. "Lagerfeuer" erzählt "Geschichten über Geschichte", das Buch changiert zwischen Fakten und Fiktion. Vor einem mehr oder weniger abstrakten historisch-politischen Hintergrund werden konkrete Figuren mit ihren persönlichen, individuell unterschiedlichen Erfahrungen, Wünschen und Ängsten dargestellt.

    Versucht man, die Mitteilung dieses komplexen, konzentrierten Buchs zu deuten, kommt man zu einem ernüchternden Ergebnis. Marienfelde galt als "Tor zur Freiheit" - aber die Flüchtlinge erfahren an diesem Übergangsort nichts als Desillusionierung. Nelly Senff und ihre Kinder, Krystina und Pischke bleiben in ihrer Freiheitsbewegung in Marienfelde buchstäblich stecken, sie kommen nicht im Westen an - und man kann sich fragen, ob es für Flüchtlinge überhaupt eine Ankunft gibt. Dem Bild von den offenen Armen, mit denen notleidende, aus dem Osten kommende Brüder und Schwestern im Westen aufgenommen wurden, werden hier Fakten entgegengesetzt, die überhaupt kein Ruhmesblatt für "die" Westler sind. Julia Franck ist weit davon entfernt, larmoyant zu werden, ihr Buch ist keine zum Roman geronnene Anklageschrift. Und doch werden hier Phänomene geschildert, die in ihrer fortgesetzten Kontinuität bedenkenswert sind: Was 1978 die geflohenen Protagonisten beschäftigt, hat sich in der Wahrnehmung vieler Ostdeutscher nach 89 für die gesamte
    DDR- Bevölkerung noch einmal wiederholt.

    Und es gilt in noch größeren Ausmaß für heutige Asylbewerber von woher auch immer. Die Fremden, hier die Fremden aus dem Osten, werden von diversen Diensten genauestens verhört und gelten zuallererst als verdächtig. Ihre Ausbildungen sind nichts wert, man traut ihnen kein vernünftiges Arbeiten zu; ihre mangelnde Kaufkraft, überhaupt ihre fehlende Kenntnis westlicher Maßstäbe macht sie verächtlich. Die Organisation im Aufnahmelager wird als entmündigend, als demütigend erfahren - Stichwort Lebensmittelmarken, oder Ausgehverbot bei Nacht - kurz, man lässt sie fühlen, dass sie Menschen zweiter Klasse sind. In einem Interview mit der Regisseurin Daniela Schmidt hatte Julia Franck auf die Frage, wie mit solch verletzenden Erfahrungen umgegangen wurde, eine Gegenfrage: Wer sehe sich schon gern als Opfer, fragte sie zurück und erklärte, es werde kaum über eine solche Erfahrung gesprochen.

    Die Flüchtlinge haben den Westen selbst gewählt, und die Erfahrung, unwillkommen zu sein, schlägt noch einmal auf die eigene Person zurück; sie macht klein, unsicher, schweigsam. Und wo sollten sie sich beklagen? Für die Zurückgebliebenen sind sie in dieser oder jener Weise Verräter, und aus dem Westen schallt ihnen entgegen, sie kämen ohne alles an und hätten dann auch noch Ansprüche. Es ist gut, dass Julia Franck den Flüchtlingen die Figur John Bird entgegengesetzt hat; vielleicht wäre ihr Buch sonst doch in allem Schmerz sehr friedlich geworden. Bird, für den Freiheit gleich Sicherheit gleich er selbst ist, verkörpert vor allem eins: Macht. Und ganz besonders durch die Entwicklung dieser komplex gezeichneten Figur gewinnt das Buch seine Spannung, es zeigt die Härte des kalten Kriegs. Insofern ist "Lagerfeuer", das soll hier noch einmal betont werden, weniger Anklageschrift oder gar therapeutische Aufarbeitung, als eine literarische Analyse. Geschichte, aufgelöst in Geschichten, wird wieder zu Geschichte, die zu denken gibt. Julia Franck schildert ihre Figuren mit Distanz und Diskretion; sie psychologisiert nicht, sie weiß nicht alles von ihnen, - und das heißt, auch der Leser wird nicht alle Situationen aufklären können.

    Das Buch enthält einige kriminalistische Elemente, so etwa die Frage, wer eigentlich ein Spitzel in Marienfelde ist, wer "Opfer" und wer "Täter" ist, aber der Roman ist insgesamt nicht auf Klärung und Enträtselung angelegt. Man kann dem neuen Buch vorwerfen, dass seine Konstruktion an einigen Stellen etwas knirscht; im begrenzten Raum des Lagers hängt alles mit allem wundersam zusammen. Trotzdem wirkt der Roman nicht eng, denn Julia Franck zeigt mehr, als dass sie erklärt. Sie führt eine Fülle von Bildern vor, Momentaufnahmen, und der Abstand, den sie zu den Figuren hat, wirkt hier nicht cool. Es gibt eine Distanz, die als Haltung des nicht-zu-nahe-Tretens etwas Rücksichtsvolles, Taktvolles hat; so ist es in "Lagerfeuer", - und so entsteht ein Raum, der es den Lesern ermöglicht, sich den Empfindungen der Figuren anzunähern.