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Künstlerszene in Santiago de Chile
Kreativität auf der Straße

Streetart, Museen, Galerien oder Performances - seit einigen Jahren schon boomt die Künstlerszene in Santiago de Chile. Künstler und Institutionen haben sich in den letzten Jahren einiges einfallen lassen: Ein Rundgang durch die kreative urbane Szene der chilenischen Hauptstadt.

Von Marsida Lluca | 13.01.2019
    Estefanía Leighton sitzt auf der Straße und malt ein Street Art Bild
    Die chilenische Streetartkünstlerin Estefanía Leighton bei der Arbeit (Deutschlandradio / Marsida Lluca)
    Estefania Leighton kniet vor ihren Farbtöpfen. Die 30jährige Street Art Künstlerin trägt eine große, runde Brille und Tattoos an den Armen. Gerade mischt sie ein kräftiges Rotorange, bevor sie den nächsten Pinselstrich ansetzt: An zwei sich gegenüberliegenden Mauerflächen malt sie zwei nackte Frauen auf, die sich in einem exotischen Garten ausruhen. Um sie herum, tanzen oder lesen kleinere Frauenfiguren. Wir sind am Kulturzentrum Gabriela Mistral, mitten in Estefanias Geburtsstadt Santiago de Chile.
    "Ich habe mich hier von der chilenischen Dichterin Gabriela Mistral inspirieren lassen. Nach ihr ist dieses Kulturzentrum benannt. Die Frauen liegen in Gabrielas Garten. Das ist aber nur meine Initialidee. Denn es kommen auch Leute vorbei, die sagen, was sie selbst mit den Bildern verbinden, welche Geschichte für sie dahinter steckt. Am Ende ist das Werk auch das Ergebnis ihrer Wahrnehmung. Das ist bereichernd und für mich das Schöne an Street Art."

    Beeindruckend ist auch das Kulturzentrum selbst. Ein halboffener, lichtdurchfluteter Gebäudekomplex, der einer großen Fabrikhalle gleicht. Spannende Theaterstücke werden hier inszeniert und Ausstellungen gezeigt. Die Patios haben sich Jugendliche erobert.
    Ein Street-Art-Bild mit gelb, grün rosa Motiven
    Street Art von Estefanía Leightons in der Nähe des Kulturzentrums Gabriela Mistra in Santiago de Chile (Deutschlandradio / Marsida Lluca)
    "Eine magische Atmosphäre liegt in der Luft"
    Dass von hier aus einst der chilenische Diktator Augusto Pinochet regierte, davon merkt man heute wenig. Der Ort des Schreckens hat sich gewandelt - zu einem Symbol der schönen Künste. Eine magische Atmosphäre liegt in der Luft.
    Estefania malt Ihr Bild im Rahmen eines Festivals. Dabei helfen ihre auch anderen Künstler. Sie stehen auf Leitern, bitten um Anweisungen. Lange Zeit war Estefania auf Reise durch Lateinamerika. Jetzt ist sie überrascht davon, wie sehr sich ihre Stadt verändert habe.
    "Es ist ein kompletter Wandel. Das kulturelle Angebot in Santiago ist aufregend und divers. Vom Tanz, über Theater, Musik, Gastronomie, Festivals, Poesie: Santiago lädt ein, die Kultur zu schätzen, den eigenen Künstler, den man in sich trägt, heraus zu holen. Unabhängig davon, ob die Leute das wollen oder nicht. Auf den Straßen passiert einfach was. Die Kunst und die Kultur kommen zu einem. Das ist toll."
    Die Kunst erreicht einen vor allem im Kultur- und Touristenviertel Santiagos, dem Barrios Astoria, das europäisch anmutet. Galerien und Museen reihen sich aneinander an, am nahe gelegenen Praue Freital schlendern die Santiagoer an Palmen vorbei. Die ineinander versunkenen Liebespärchen stört das wenig.
    "Once" - Teatime auf Chilenisch
    An verschiedenen Straßenecken haben Musiker ihre Instrumente ausgepackt, während die Chilenen draußen in den Cafés sitzen und einen "Cortado" schlürfen. Als Nachmittagssnack verschmausen sie Avocado- Sandwiches. Dazu gibt es mit Karamell gefülltes Gebäck. "Once" heißt diese chilenische Teatime.
    Kulturell aufgeblüht ist Santiago vor allem in den letzten zehn Jahren, auch wenn das Gefälle zwischen armen und reichen Vierteln immer noch krass ist. Die Künstler und die jeweiligen Instiutionen sind aber kreativ. Auch der Staat würde mittlerweile mehr in die Kulturszene investieren, sagt Felipe Mella, als wir durch Lastarria schlendern. Felipe, kurze Haare und gepflegter Bart, ist der Geschäftsführer des Zentrums Gabriela Mistral. Es ist das größte Kulturzentrum Chiles.
    "Das urbane Leben in Santiago ist jetzt ganz anders als früher, auch die Art wie sich die Stadtviertel entwickelt haben. Rund um verschiedene kulturelle Pole gibt es neue Aktivitäten. Die Menschen fühlen sich mehr angesprochen und beteiligen sich. Das hat dazu geführt, dass das Leben in der Stadt angenehmer und freundlicher geworden ist, viel näher an den Leuten dran."

    Diese Nähe wird auch durch ein neues Pilotprojekt erzeugt, bei dem sich verschiedene Museen und das Kulturzentrum Gabriela Mistral vernetzen. Gemeinsam veranstalten sie Happenings und richten ein Festival aus. Auch das Street Art Bild von Estefania gehört dazu. Barrio Arte heißt das Konzept. Felipe Mella hofft, dass es in ganz Santiago nachgeahmt wird.
    Die Eingangsfront des Kulturzentrums Gabriela Mistral mit großformatigen Veranstaltungsplakaten
    Mittelpunkt der Kreativszene: das Kulturzentrum Gabriela Mistral (Deutschlandradio / Marsida Lluca)
    Das Konzept "Barrio Arte"
    "Die Hauptidee ist es, noch mehr Institutionen einzuladen. Galerien und Kinos, kleinere Theater. Wenn wir uns zusammen tun, führt das zu mehr Synergie, wir werden sichtbarer. Aber auch woanders in der Stadt wird Kunst gelebt, im Matucana 100, in Quinta Normal oder im Museum der Erinnerung. Das sind alles wichtige kulturelle Pole."
    Es ist Abend geworden: Am Eingang der Metrostation Bellas Artes tanzt eine Gruppe von etwa 30 Leuten. Sie tragen Jeans und graue Shirts. Es wird gejohlt und gelacht, die Stimmung ist ausgelassen.
    Das Ganze ist eine Performance. Dieselbe Aktion startet simultan auch an zwei anderen Orten in der Stadt. Am Ende sollen alle aufeinander treffen, mit hoffentlich vielen mitgelaufenen Zuschauern. Die Idee stammt von José Vidal, er ist einer der bekanntesten Choreographen in Chile.

    "Wir haben eine öffentliche Ausschreibung gemacht, also für Bürger aus der gesamten Stadt, für 100 Leute. Die Teilnehmer sind keine professionellen Tänzer, sie haben ganz unterschiedliche Berufe und sind alle unterschiedlich alt."
    Ökosystem hat José Vidal die Performance genannt. Sie lief zum ersten Mal beim Theaterfestival Santiago a Mil - jährlich eines der kulturellen Highlights in Santiago. José hat sich in den USA und Europa zum Tänzer ausbilden lassen. Als Choreograph trat er auch schon in Deutschland auf. Er wolle mit dieser Performance die Menschen miteinander verbinden.
    Vor dem Gebäude des Museums der Schönen Künste stehen die Teilnehmer und proben
    Generalprobe vor dem Museum der Schönen Künste in Santiago de Chile (Deutschlandradio / Marsida Lluca)
    Santiago de Chile strotzt vor Kreativität
    "Es geht um Bürgerbeteiligung und darum die Kunst zu demokratisieren. Die Grenzen zwischen den Zuschauern und der Performance sollen aufgerissen werden. Innerhalb der Tanzgruppen wechselt auch die Führung. Das bestärkt die Leute darin kreativ zu sein, sich untereinander auszutauschen. Da die soziale Kluft in Santiago groß ist, geht es mir um die politische Botschaft."
    Die Vermischung auf der Straße funktioniert tatsächlich. Je später der Abend, desto größer schwillt die Menschentraube an, die die Gruppe begleitet.
    Die ausgelassene Tanzfeier endet schließlich am Museum für angewandte Kunst, wo sich alle vereinen.
    Mitten im Herzen Santiago de Chiles - einer Stadt, die vor Kreativität nur so strotzt.