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Künstliche Intelligenz beim Optiker
Glaukom und Co. per Algorithmus erkennen

Erblinden verhindern durch Früherkennung: Das könnten Algorithmen leisten, die gefährliche Augenkrankheiten automatisch erkennen. Ein Unternehmen will hierzulande entsprechende Systeme anbieten, die bei Optikern zum Einsatz kommen. Doch die Einführung solcher Untersuchungen birgt auch Risiken.

Von Piotr Heller | 14.06.2019
Eine Augenoperation am Primorje-Zentrum für Augenmikrochirurgie in Wladiwostok.
Nicht alle, für die es wichtig wäre, besuchen einen Augenarzt (picture alliance / dpa / Vitaliy Ankov)
"Wir starten mit dem rechten Auge. Einmal bitte auf das Grüne Kreuz ganz entspannt schauen, das Kamerasystem kalibriert sich gerade. Drei, zwei, eins."
Sven Köhler von der Firma Optovision macht Aufnahmen von der Netzhaut eines Testkunden. Dafür nutzt er eine spezielle Kamera, wie man sie aus der Augenarztpraxis kennt:
"Das ist die Aufnahme von dem Augenhintergrund. Und würde dann direkt weiter mit dem linken Auge machen."
Die Firma aus Langen stellt seit 40 Jahren Brillengläser her. Inzwischen sind es drei Millionen pro Jahr. Damit beliefert sie vor allem in Deutschland Augenoptiker. Seit diesem März liefert sie den Optikern aber nicht mehr nur Gläser, sondern auch die Möglichkeit, die Kunden auf Augenkrankheiten zu untersuchen:
"Wir testen hier auf Indizes für diabetische Rethinopathie, für altersbedingte Makuladegeneration oder für Glaukom."
Untersuchung mithilfe von Algorithmen
Das sind in Deutschland übrigens die Top-3-Ursachen für Erblindungen. Die Bedienung ist einfach: Das System sendet die Bilder an einen Server des Dänischen Unternehmens Retinalyze. Dort werden sie mit Algorithmen untersucht, welche mittels maschinellen Lernens darauf trainiert wurden, Anzeichen für die drei Augenkrankheiten zu erkennen. Innerhalb von Sekunden erscheint auf dem Computerbildschirm das Ergebnis in Form eines Ampelsystems:
"Grün beispielsweise: Es sind keinerlei Auffälligkeiten von dem Algorithmus gefunden worden. Gelb würde bedeuten: Hier sind eventuell einige Auffälligkeiten gefunden worden. Und Rot würde bedeuten: Da sind mehrere Auffälligkeiten."
Das System zeigt für den Testkunden gerade nur beim Glaukom eine gelbe Ampel an:
"In diesem Fall jetzt ist es wichtig, dass man eine regelmäßige Kontrolle eines solchen Screenings durchführt. Und - das ist ganz wichtig: Diese Art des Screenings ersetzt nicht den Augenarztbesuch."
Ziel ist eine höhere Aufmerksamkeit
Denn derzeit sind in Deutschland Augenärzte für eine solche Untersuchung zuständig. Sie schauen sich die Bilder der Netzhaut an und stellen Diagnosen. Die Frage ist also: Wenn das Screening beim Augenoptiker den Besuch beim Augenarzt nicht ersetzt – wozu soll es dann überhaupt gut sein?
"Wir versuchen damit, eine Schärfung des Gesundheitsbewusstseins zu haben. So wie wir das in anderen Bereichen haben, Krebs et cetera. Und damit kriegen wir mit solchen Breitenscreenings einen höheren Bekanntheitsgrad, das Thema wird diskutiert. Der Augenoptiker kann darauf hinweisen. Aber: Es ersetzt nicht die Diagnose, den Augenarztbesuch. Es macht aufmerksam."
Erklärt der Geschäftsführer des Unternehmens Axel Kellersmann. Aber natürlich ist eine Einführung des Systems in großem Stil in Deutschland viel mehr als eine Imagekampagne für Augenuntersuchungen. Es ist ein potenziell gutes Geschäft und vor allem ein erster Schritt, bei dem Ärzten gewisse Aufgaben von Algorithmen abgenommen werden. Was sagen die zu so etwas? Ludger Wollring ist Augenarzt und Pressesprecher des entsprechenden Berufsverbands:
"Im Prinzip ist das ein guter Ansatz, der die Untersuchung einer weit größeren Anzahl von Patienten ermöglicht, um die vielen sonst vielleicht erst zu spät erkannten Netzhauterkrankungen besser und frühzeitig zu entdecken. Denn nicht alle, für die es wichtig wäre, gehen derzeit zum Augenarzt."
Risiko der falschen Sicherheit
Das liegt auch daran, dass man teilweise lange auf Termine warten muss oder gar keinen Augenarzt in der Nähe hat. Bei Optikern ist die Versorgung schon besser. Und tatsächlich kann man Menschen vor dem Erblinden bewahren, wenn man die Krankheiten rechtzeitig erkennt – und sei es bei einem automatisierten Screening. In anderen Ländern, vor allem in Dänemark und Großbritannien, hat sich ein solches System in den letzten Jahren bewährt. Aber Ludger Wollring sieht nicht nur Positives:
"Es gibt berufspolitische Probleme, inwieweit beim Augenoptiker so eine Diagnose gestellt werden kann und darf. Was ist, wenn beim Augenoptiker gesagt wird: Es ist alles in Ordnung - und es stellt sich später heraus, es war nicht alles in Ordnung?"
Tatsächlich haben die Algorithmen bei manchen Krankheiten eine Falsch-Negativ-Rate von 13,5 Prozent. Das heißt: Bei knapp 14 Prozent der Kunden mit Auffälligkeiten erkennt das System diese nicht. Werden diese Menschen in falscher Sicherheit gewogen? Optovision sagt nein, man weise schließlich darauf hin, dass das Screening keine Diagnose ersetzte. Offen ist aber, wie ernst die Kunden einen solchen Hinweis nehmen. Die Frage bei dem System ist also, was schwerer wiegt: der echte Nutzen für viele, die dank des automatischen Screenings überhaupt erst die Krankheit bemerken? Oder der pozentielle Schaden für den Einzelnen, der ein falsches Ergebnis bekommt?