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Künstliche Muskeln
Angelschnur hebt Gewichte

Physik. - Jahrelang forschte der US-Nanotechnologe Ray Baughman daran, wie sich mit teuren Kohlenstoff-Nanoröhren künstliche Muskeln herstellen lassen. Doch dann entdeckte er dabei ein Wirkprinzip. Und das funktioniert mit der einfachen Angelschnur noch viel besser.

Von Lucian Haas | 21.02.2014
    Vor zwei Jahren überraschte Ray Baughman die Fachwelt mit einer neuen Bauart künstlicher Muskeln. Der Nanotechnologe von der Universität von Texas hatte Fasern aus Kohlenstoff-Nanoröhren zu Garnen verflochten und dann stark verdrillt. In dieser Form entwickelten sie erstaunliche Zugkräfte. Diese künstlichen Muskeln hatten allerdings ein Problem, für das Ray Baughman nun wiederum eine unerwartete Lösung gefunden hat.
    "Die künstlichen Muskeln, die auf Garnen aus Kohlenstoff-Nanoröhren beruhen, sind in der Herstellung sehr teuer. Wir haben nun große Fortschritte gemacht, denn wir haben Muskeln entwickelt, die noch leistungsfähiger sind - aber mit dem Vorteil, dass sie aus Angelschnur oder Nähfäden bestehen, die man im Kaufhaus um die Ecke finden kann."
    Das Grundprinzip dieser Muskeln ist dabei gleich geblieben. Für die Herstellung werden Fäden aus Nylon oder Polyethylen aufgespannt und wie der Gummiband-Antrieb eines Spielflugzeugs in sich selbst verdreht. Dieses Drehen wird so weit fortgesetzt, bis sich die verdrillten Fäden auch noch anfangen zu kringeln, also größere Windungen zu schlagen. Erhitzt man diese gekringelten Polymerstränge, so ziehen sie sich wie Muskelfasern zusammen. Kühlen sie ab, dehnen sie sich wieder aus. Ray Baughman erklärt das Prinzip am Beispiel einer Metallfeder.
    Kontraktion durch Verdrehen
    "Wenn man eine Metallfeder in die Länge zieht, beginnt sich der gewundene Draht in sich selbst torsionsartig zu verdrehen. Bei den verdrillten Polymerfasern geschieht das Gleiche in anderer Richtung. Wenn sie erhitzt werden, verdrehen sie sich und ziehen dabei die Windungen dichter zusammen. Das ergibt eine enorme Kontraktion, die mehr als 50 Prozent betragen kann."
    Ray Baughman ist nicht nur von den großen Längenveränderungen beeindruckt, sondern schwärmt auch von anderen Eigenschaften:
    Die künstlichen Muskeln können hundert Mal mehr Kraft erzeugen als natürliche Muskeln mit gleichem Gewicht. Ihre Leistung, ebenfalls im Verhältnis zum Gewicht, ist fünf Mal größer als die eines Automotors und erreicht die eines Düsentriebwerks."
    Nylonfäden fast ermüdungsfrei
    Ein Video aus dem Labor Baughmans zeigt, wie ein 50 Zentimeter langer und etwa bleistiftdicker Muskelstrang aus verdrilltem Nylon ein Gewicht von knapp 14 Kilogramm ein paar Zentimeter hebt und senkt. Dafür wird der Strang nur abwechselnd mit warmem und kaltem Wasser umspült. Eine andere Möglichkeit, die Bewegungen zu steuern, besteht darin, Heizdrähte in die künstlichen Muskeln zu verflechten. Bei guter Kühlung sind auf diese Weise bis zu zehn Kontraktionen pro Sekunde möglich. Dabei arbeiten die verdrillten Nylonfäden nahezu ermüdungsfrei, solange sie nicht über den Schmelzpunkt der Kunststoffe hinaus erhitzt werden. Für den Alltagseinsatz sieht Ray Baughman nur ein Problem.
    "Es ist das Problem aller künstlichen Muskeln: Die Effizienz der Energieumwandlung ist gering, nur ein paar Prozent. Der Rest sind Wärmeverluste. Unsere Herausforderung besteht nun darin, die Energieeffizienz dieser Muskeln zu verbessern."
    Anwendungsfelder für die günstigen Muskeln aus Nylon gäbe es viele.
    "Sie könnten sehr leicht in humanoiden Robotern eingesetzt werden. Dort würden sie schwere und voluminöse Motoren und hydraulische Systeme ersetzen. Man könnte die künstlichen Muskeln auch für das automatische Öffnen und Schließen von Fenstern in Gebäuden verwenden. Ein anderer Einsatzbereich wäre, mit diesen Muskeln Temperaturunterschiede in der Umwelt als Energiequelle nutzbar zu machen."
    Forscher in Ray Baughmans Labor arbeiten auch daran, verdrillte Nylonfäden in Stoffe zu verweben und so smarte Textilien für Funktionsbekleidung zu erhalten. Je nach Umgebungstemperatur würden deren Maschen weiter oder enger und das Gewebe entsprechend mehr oder weniger luftdurchlässig.